Tradition und Erbe
Lange vor Beginn der organisierten Freidenker-Bewegung suchten Menschen nach einem freien geistigen Fundament für ein eigenverantwortlich gestaltetes Leben und Selbstverwirklichung.
Zu den frühesten Beispielen zählen Kaiserin Teje und ihr Sohn Echnaton im Ägypten des 15. und 14. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung sowie der chinesische Kaiser Wu im 12.-11. Jahrhundert v. u. Z., die jeweils gegen den Einfluss der Priesterschaft vorgingen, für Liebe zu den Menschen statt zu den Göttern eintraten, und naturwissenschaftliche Erkenntnis förderten.
Die indischen Philosophen Braspati und Carvaka im 7. Jh. v. u. Z. lehnten die Annahme eines ‚Jenseits‘ ab, sahen in der geistigen Unabhängigkeit und dem eigenverantwortlichen Bewusstsein das höchste Gut des Menschen und begründeten die Lehre, daß die Materie die einzige Wirklichkeit ist und die Natur alles ohne Wirken höherer Mächte aus sich selbst hervorbringt.
Die Entwicklung des freien Denkens ist fortan eng verbunden mit der Geschichte der Philosophie, ihre materialistische Richtung entwickelte sich in Gegnerschaft zu idealistischen Auffassungen, wie sie von allen Religionen vertreten werden, die einen ‚geistigen Ursprung‘ der Welt annehmen.
Im antiken Griechenland führte das Wirken von Thales, Anaximander und Heraklit, Demokrit und Epikur zur Weiterentwicklung eines materalistisch-monistischen, naturwissenschaftlich begründeten freien Denkens.
Über weite geschichtliche Zeiträume, besonders im Mittelalter, gerieten Bestrebungen, frei zu denken, immer wieder in Konflikt mit der „Ehe“ von weltlicher Macht und Kirche.
Die Inanspruchnahme von Religion zur Legitimierung von Unterdrückung und Ausbeutung zeugte geistige Strömungen und Protestbewegungen, die sich gegen ‚Verfälschung und Missbrauch der Religion‘ wandten.
Katharer, Albigenser und Waldenser, Bewegungen wie die Brüder und Schwestern vom freien Geist im 13. Jahrhundert sowie die Hussiten und später die Wiedertäufer sind Beispiele religiös-sozialer Protestströmungen, die als Ketzer denunziert und grausam verfolgt wurden. Der „Heiligen Inquisition“ mit ihren Hexenverbrennungen fielen unzählige Menschen zum Opfer.
Innerkirchlich entwickelten sich die Averroisten, die nominalistische Richtung der Scholastik und der Humanismus der Renaissance zu Bewegungen, die teilweise materialistische Tendenzen vertraten und das Dogmengebäude der Kirche erschütterten.
Besonders machtvoll zeigte sich der Protest gegen das Feudalsystem und die Papstkirche als seine wichtigste geistige Stütze in der Reformation, die die Bauernkriege, die Entwicklung zweier politisch-konfessioneller Lager und die Gegenreformation im Gefolge hatten.
Mit der Verbreitung der Schriftlichkeit wurde das klerikale Bildungsmonopol gebrochen, die Manufakturproduktion bewirkte wirtschaftlichen Aufschwung.
Das Wirken von Kopernikus, Galileo Galilei und Giordano Bruno befreite die Naturwissenschaften und das wissenschaftliche Denken überhaupt von dogmatischer Bevormundung, sie führten das Erbe der materialistischen naturwissenschaftlichen Denker fort.
Im 17. und 18. Jahrhundert entstanden breite religionskritische geistig-philosophische Strömungen, repräsentiert z. B. durch Descartes, Spinoza, Voltaire, Rousseau, Lessing, Diderot und d’Alembert.
Namensgebung
Der Name „Freidenker“ entstand in dieser Zeit und wurde erstmals für den irischen Philosophen John Toland gebraucht, dessen religionskritisches Buch „Christentum ohne Geheimnis“ 1696 nach einem Beschluss des Parlaments in Dublin öffentlich verbrannt wurde. Spätestens seit der 1713 in London erschienenen “ Abhandlung über Freidenken und Freidenkertum“ von Anthony Collins wurde der begriff allgemein gebräuchlich zunächst für jene, die sich kirchlicher Lehrautorität widersetzten, schließlich für diejenigen, die einen Gottesglauben generell ablehnen.
Der Deutsche Freidenker-Verband hat diese Tradition aufgenommen und sieht insbesondere im Denken der europäischen Aufklärung, des Atheismus und philosophischen Materialismus, der klassischen deutschen bürgerlichen Philosophie bis zur marxistischen Religionsphilosophie wichtiges geistiges, philosophisches Erbe.
Religionskritik und Toleranzidee waren in Frankreich entscheidende geistige Hebel der Großen Revolution von 1789-1799. Sie markierte einen wichtigen Schritt zur „Verweltlichung“, der Befreiung der Menschheit von religiöser Mystifikation. Die sie tragenden Ideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wirkten fort, inspirierten die demokratische Bewegung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und sie behalten auch heute ihre prinzipielle Bedeutung als zu verwirklichende Ideale.
In der Zeit der Weberaufstände bildeten Pfarrer beider christlicher Konfessionen freie Gemeinden in Opposition zu der mit der Obrigkeit paktierenden Amtskirche. Nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution 1848 waren diese oppositionellen Strömungen erheblicher Verfolgung ausgesetzt, 1859 erfolgte der Zusammenschluss zum „Bund freireligiöser Gemeinden“.
Mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung wuchs zugleich das Bestreben, nicht nur „frei in der Religion“, sondern gänzlich „frei von Religion“ zu sein. Schulentlassungsfeier und Jugendweihen als Alternative zur Konfirmation werden durchgeführt, sie überwanden zunehmend religiöse Formen und Inhalte.
Nachdem 1880 in Brüssel der „Internationale Freidenkerbund“ gebildet worden war, beginnt am 10. April 1881 in Frankfurt am Main die Geschichte der organisierten deutschen Freidenkerbewegung mit der Gründung des „Deutschen Freidenkerbundes“, zu dessen Gründern Ludwig Büchner und Wilhelm Liebknecht gehörten.
Die Organisation wurde als „bürgerlich“ bezeichnet, da sie, wie das Bürgertum früher, den Schwerpunkt auf die Aufklärung und Bildungsarbeit legte. Gleiches gilt für den 1906 von Ernst Haeckel gegründeten „Deutschen Monistenbund“, der für eine freigeistige Weltanschauung auf naturwissenschaftlicher Grundlage eintrat.
Nach dem Freidenker-Weltkongress in Rom 1904 bildeten im Februar 1905 zwölf Sozialdemokraten in Berlin den „Verein der Freidenker für Feuerbestattung“. Im September 1908 wurde in Eisenach der „Zentralverband Deutscher Freidenker“ gegründet, der sich ab 1911 „Zentralverband proletarischer Freidenker“, und ab 1922 „Gemeinschaft Proletarischer Freidenker“ nannte.
Die 1905 und 1908 entstandenen Freidenker-Verbände verstanden sich beide als sozialistische, der Arbeiterbewegung verbundene Organisationen. Im Unterschied zu den bürgerlichen Atheisten sahen sie nicht im Gottesglauben den Hemmschuh für den Fortschritt, sondern in der auf Unterdrückung beruhenden Klassengesellschaft.
Sie folgerten daraus, den Kampf gegen Religion und Kirche nicht allein und in erster Linie im Reich der Gedanken, sondern vor allem gesellschaftspolitisch zu führen. Beide Verbände konnten nach dem Ersten Weltkrieg einen enormen Mitgliederzuwachs verzeichnen.
Freidenker für Feuerbestattung
Die „Freidenker für Feuerbestattung“ hatten ihren organisationspolitischen Schwerpunkt in Berlin, neben der Propagierung der Feuerbestattung boten sie eine Sterbeversicherung an und erfüllten damit neben einem kulturellen zugleich ein weitverbreitetes soziales Bedürfnis, besonders in der Arbeiterschaft.
Proletarischen Freidenker
Die „Proletarischen Freidenker“ wirkten hauptsächlich in den übrigen Teilen Deutschlands, ihre Hauptaufgaben sahen sie in der Entwicklung einer alternativen „Gemeinschafts- und Feierkultur“, sowie im politisch-weltanschaulichen Kampf gegen den Einfluß der Kirche und religiöse Anschauungen.
Gemeinsam für die Trennung von Staat und Kirche
1922 bildeten beide Verbände mit dem Monistenbund, den im „Volksbund für Geistesfreiheit“ zusammenwirkenden Freidenkerbund und Bund Freireligiöser Gemeinden sowie weiteren freigeistigen Organisationen die „Reichsarbeitsgemeinschaft freigeistiger Verbände“, um gemeinsam für die Trennung von Staat und Kirche einzutreten.
Seit 1925 gaben die „Freidenker für Feuerbestattung“ das Verbandsorgan „Der Freidenker“ heraus, sie wandten sich damit stärker der Propagierung der weltanschaulichen und kulturpolitischen Vorstellungen des Freidenkertums zu, und schufen so wichtige Voraussetzungen für die Vereinigung mit den „Proletarischen Freidenkern“
1927-1944
1927 fand der Zusammenschluss zum „Verband für Freidenkertum und Feuerbestattung“ statt, 1930 gab sich die Organisation den heutigen Namen „Deutscher Freidenker-Verband“ und wählte Max Sievers zum Vorsitzenden. Der vereinigte Verband wurde Mitglied der 1925 gegründeten ‚Internationale Proletarischer Freidenker“. Die 1905 gegründete Zeitschrift „Der Atheist“ wurde zum Organ der Internationale.
Wichtige Programmpunkte der Freidenker waren die Weltlichkeit des Schulwesens und die Abschaffung des Religionsunterrichts, die Abschaffung des religiösen Zwangseides an den Gerichten und die Beseitigung der Strafbarkeit von Abtreibungen.
Die parteipolitische Spaltung der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik führte auch zu negativen Auseinandersetzungen im DFV. 1929 rief die KPD ihre Mitglieder zu Gründung eines „Verbandes proletarischer Freidenker Deutschlands“ auf. Er wurde im Mai 1932, nunmehr 170 000 Mitglieder zählend, von der Reichsregierung Brüning verboten, da er „Religion und Sittlichkeit abschaffen“ wolle.
Unmittelbar danach, im Juni 1932, stellte die NSDAP einen Verbotsantrag gegen den 650 000 Mitglieder starken DFV. Am 17. März 1933 stürmte die SA das Berliner Freidenkerhaus, das Vermögen wurde geraubt, die Tätigkeit des Verbandes verboten.
Max Sievers gelang im April 1933 gemeinsam mit dem DFV-Generalsekretär Hermann Graul die Flucht ins Ausland. 1943 wurde Max Sievers von den Nazis in Frankreich verhaftet, am 17. 11. 1943 vom „Volksgerichtshof‘ unter Vorsitz von Roland Freisler wegen „Verrat am deutschen Volke“ zum Tode verurteilt und am 17. 1. 1944 von den Faschisten im Zuchthaus Brandenburg-Görden hingerichtet.
Nach der Befreiung vom Faschismus
Nach der Befreiung vom Faschismus war das Bemühen um Wiedergründung des Deutschen Freidenker-Verbandes von der gleichen Erkenntnis getragen, wie sie die Gewerkschaftsbewegung als geschichtliche Lehre zog: Eine parteipolitisch motivierte Zersplitterung muss vermieden, die parteipolitische Unabhängigkeit strikt verteidigt werden.
Neugründungen konnten zunächst nur lokal stattfinden, da die Westalliierten in den Kirchen und sich religiös nennenden Gemeinschaften zuverlässigere Partner für den Aufbau der Demokratie sahen, in der sowjetischen Zone konnte generell keine neue Freidenkerorganisation entstehen.
Ende 1945 gründete sich der DFV in Hamburg wieder, 1949 entstanden Landesverbände in Bayern, Berlin (West), Hessen und Niedersachsen, 1950 in Nordrhein-Westfalen. Daraufhin fand am 17. 3. 1951 eine erste „Generalversammlung“ in Braunschweig statt, die den Gesamtverband für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland neukonstituierte und den 1949 aus dem Exil zurückgekehrten ehemaligen Generalsekretär Hermann Graul zum 1. Vorsitzenden wählte. Der Landesverband Berlin (West) blieb aufgrund der politischen Situation in Deutschland selbständig, gemeinsam bemühte man sich um die Wiederherstellung des 1933 von den Nazis verbotenen Verbandes und die Herausgabe des geraubten Vermögens, was nach langwierigen Prozessen, die bis in die siebziger Jahre geführt wurden, scheiterte.
1952 trat der DFV der Weltunion der Freidenker bei.
Nach dem Tode von Hermann Graul wurde auf der außerordentlichen Generalversammlung am 17. 4. 1954 der Sitz des Verbandes von Braunschweig nach Dortmund verlegt. In allen Bundesländern der BRD gründeten sich DFV-Landesverbände, während entsprechende Bemühungen in der DDR wegen des Monopolanspruchs der SED in Weltanschauungsfragen erfolglos blieben.
Als jedoch 1989 von der SED-Führung die Gründung eines Freidenker-Verbandes mit dem Ziel eingeleitet wurde, den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Konflikten entgegenzuwirken, zeigte sich schnell, daß die Mehrheit der Mitglieder freies Denken, freie Diskussion und Hilfe in allen Lebensfragen suchten, jedoch keine Reglementierung von oben.
Gemeinsamer Deutscher Freidenker-Verband 1991
Am 1. Juni 1991 schlossen sich die Freidenker aus Ost und West, wiederum in Braunschweig, zu einem gemeinsamen Deutschen Freidenker-Verband zusammen.