1 Die Fakten
Während der Weltwirtschaftskonferenz von Genua (10. April bis 19. Mai 1922) schlossen und
veröffentlichten Deutschland und Sowjetrussland am 16. April 1922 in Rapallo (der Ort liegt
südöstlich von Genua;) einen Vertrag, der die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen
bestimmte und alle gegenseitigen Ansprüche aus der Zeit des Ersten Weltkrieges als erledigt
bestimmte. Außerdem sollte in den deutsch–sowjetrussischen Wirtschaftsbeziehungen der
Grundsatz der Meistbegünstigung gelten.
2 Das kapitalistische Weltsystem 1914 und 1922
Vor dem Ersten Weltkrieg gab es auf der Welt 8 kapitalistische Großmächte, nach ihrer Bedeutung:
Vereinigtes Königreich (mit dem Empire), USA (mit Kolonien), Deutschland (mit Kolonien),
Frankreich (mit Kolonien), der Vielvölkerstaat Russland (mit einem inneren Kolonialsystem in den
asiatischen Gebieten), der Vielvölkerstaat Österreich–Ungarn, Italien (mit Kolonien), Japan (mit
Kolonien). Am 07. November 1917 schied Russland aus dem kapitalistischen Weltsystem und am
15. Dezember 1917 aus dem Ersten Weltkrieg aus. Im Oktober 1918 zerfiel Österreich–Ungarn.
Nach dem Ersten Weltkrieg gab es auf der Welt 6 kapitalistische Großmächte, nach ihrer Bedeutung:
USA (mit Kolonien), Vereinigtes Königreich (mit dem Empire), Deutschland (ohne Kolonien), Japan
(mit Kolonien), Frankreich (mit Kolonien), Italien (mit Kolonien). Die USA und Japan waren die
eigentlichen Gewinner des Ersten Weltkrieges.
3 Die 3 kapitalistischen Staatengruppen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg
10 „Siegermächte“: Vereinigtes Königreich, Frankreich, Italien, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei,
Jugoslawien, Belgien, Portugal, Griechenland;
5 besiegte Staaten: Deutschland, Türkei, Ungarn, Österreich, Bulgarien;
13 sonstige Staaten: Spanien, Niederlande, Schweiz, Schweden, Dänemark, Norwegen, Finnland,
Irland, Litauen, Lettland, Estland, Albanien, Luxemburg;
Die Tschechoslowakei und Jugoslawien waren neue Staaten. Polen, Finnland, Irland, Litauen,
Lettland und Estland waren unabhängig geworden.
4 Die Bildung der Sowjetunion 1922
Nach der sozialistischen Oktoberrevolution waren 4 Sowjetrepubliken gebildet worden, die
russische, die ukrainische, die weißrussische und die transkaukasische. Am 30. Dezember 1922
wurden diese 4 Sowjetrepubliken zur Sowjetunion vereinigt. Sowjetrussland (und später die
Sowjetunion) war die einzige nichtkapitalistische Großmacht auf der Welt.
5 Die imperialistischen Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg war ein beiderseits imperialistischer Krieg zwischen 2 kapitalistischen
Machtblöcken, den Mittelmächten und den Alliierten. Am 08. November 1917 hatte die russische
Revolutionsregierung beide Seiten zu einem sofortigen Waffenstillstand und zur Einberufung einer
Friedenskonferenz aufgerufen. Die Mittelmächte hatten zugestimmt, das Vereinigte Königreich und
Frankreich hatten abgelehnt. Im Herbst 1918 kapitulierten nacheinander Bulgarien, die Türkei,
Österreich–Ungarn und, als letzter, Deutschland am 11. November 1918. Die Alliierten handelten
(auf der Pariser Friedenskonferenz 1919–1920) 5 Friedensverträge für die besiegten Mittelmächte
aus. Sie wiesen den Mittelmächten die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg zu und verlangten von
ihnen Reparationen, die sie in die Schuldenfalle treiben sollten. Sowjetrussland protestierte
vergeblich gegen die 5 imperialistischen Friedensverträge.
6 Sowjetrussland, Deutschland und die Türkei nach dem Ersten Weltkrieg
Auf der Pariser Friedenskonferenz war der Völkerbund mit Sitz in Genf gegründet worden. Ungarn,
Österreich und Bulgarien wurden 1920 aufgenommen. Sowjetrussland, Deutschland und der Türkei
wurde die Aufnahme verweigert. Die Türkei ratifizierte den imperialistischen Friedensvertrag nicht.
7 Die Weltwirtschaftskonferenz in Genua 1922
Teilnehmer waren 27 der 28 erwähnten kapitalistischen Staaten Europas (die Türkei fehlte;), 5
Staaten des britischen Empire (Indien, Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika), Japan und
Sowjetrussland. Das Hauptthema waren die Reparationen der besiegten Mittelmächte.
Sowjetrussland verlangte, das Thema Abrüstung in das Konferenz–Programm einzubeziehen.
Frankreich wies den sowjetrussischen Antrag schroff zurück. Auf der Pariser Friedenskonferenz
hatte Frankreich versucht, die russischen Vorkriegsschulden in Frankreich auf Deutschland
abzuwälzen. Hierzu hatte Frankreich durch Artikel 116 des Versailler Friedensvertrages
durchgesetzt, dass auch Russland Reparationsansprüche an Deutschland hätte. Es sollte eine
neue deutsch–russische Konfrontation geschaffen werden. Stattdessen führte der Vertrag von
Rapallo Deutschland und Sowjetrussland zusammen. Frankreich drohte sofort mit einem
Einmarsch in Deutschland und der zwangsweisen Eintreibung der Reparationen. Das
Vereinigte Königreich verlangte vergeblich die sofortige Annullierung des Vertrages von Rapallo.
8 Der nicht–imperialistische Lausanner Friedensvertrag vom 24. Juli 1923
Während des griechisch–türkischen Krieges 1919–22 stand das Vereinigte Königreich auf der
griechischen Seite. Italien und Sowjetrussland standen auf der türkischen Seite. Das Vereinigte
Königreich, Italien, Frankreich, Japan, Rumänien, Jugoslawien und Griechenland beendeten
formell den Kriegszustand mit der Türkei.
9 Die französisch–belgische Aggression gegen Deutschland 1923
Nach der deutschen Kapitulation am 11. November 1918 waren das linksrheinische Deutschland und
einige Gebiete auf dem rechten Rheinufer von französischen, britischen, belgischen und US–
amerikanischen Truppen besetzt worden.
Das Vereinigte Königreich und die USA verfolgten das Ziel einer antisowjetrussischen Einigung
Europas unter Einbeziehung Deutschlands unter britisch–US–amerikanischer Hegemonie.
Frankreich erstrebte die politisch–ökonomische Vorherrschaft in Europa und verfolgte das Ziel
einer Unterwerfung Deutschlands. Am 11. Januar 1923 machte Frankreich seine auf der Konferenz
von Genua ausgesprochene Drohung war, französische und belgische Truppen besetzten das
rechtsrheinisch–westfälische Industriegebiet und trennten es durch eine Zollgrenze vom übrigen
Deutschland ab. Frankreich sicherte sich 72 % der Steinkohlenförderung, 54 % der Roheisen— und
53 % der Rohstahlproduktion Deutschlands. Außerdem forderte Frankreich 5 seiner Verbündeten
(Polen, die Tschechoslowakei, Litauen, Lettland und Estland) auf, ebenfalls gegen Deutschland
vorzugehen. Polen mobilisierte seine Reservisten und traf Vorbereitungen für einen Angriff auf
Deutschland. Litauen war bereits am 10. Januar 1923 in das französisch verwaltete Memelgebiet
einmarschiert. Frankreich übergab das Memelgebiet an Litauen.
Am 13. Januar 1923 protestierte die Sowjetunion gegen die französisch–belgische Aggression und
forderte Polen, die Tschechoslowakei, Litauen, Lettland und Estland in ultimativer Form auf,
Neutralität zu wahren. Die Sowjetunion betonte mit Nachdruck, dass sie keine militärischen
Aktionen dieser 5 Staaten, insbesondere Polens, gegen Deutschland dulden werde.
Die USA verurteilten die französisch–belgische Aggression und zogen am 24. Januar 1923 ihre
Besatzungstruppen aus Deutschland ab. Das Vereinigte Königreich distanzierte sich von der
französisch–belgischen Aggression. Frankreich und Belgien wurden verpflichtet, die seit Januar
1923 besetzten Gebiete Deutschlands bis zum 31. Juli 1925 zu räumen.
10 Schlussbemerkungen zum Vertrag von Rapallo
Er war der erste auf dem Prinzip der friedlichen Koexistenz beruhende Vertrag zwischen einem
kapitalistischen und einem nicht–kapitalistischen Staat. Außerdem waren Deutschland und die
Sowjetunion Großmächte. Er war bis zur Machtübertragung an die Nazipartei am 30. Januar 1933
die Grundlage der deutsch–sowjetischen Beziehungen. Deutschland konnte seine außenpolitische
Isolierung durchbrechen und wurde 1926 in den Völkerbund aufgenommen. Joseph Wirth (DZP,
Reichskanzler 1921–1922), bezeichnete den Vertrag von Rapallo am 29. Mai 1922 im Reichstag als
„ehrliches, aufrichtiges Friedenswerk“. Dagegen hatte Friedrich Ebert (SPD, Reichspräsident 1919–
1922) bis zum Schluss versucht, den Vertrag zu verhindern.