Eine Burg und linke Lieder – Zeitenwenden, Brückenköpfe, Dr. Seltsam und Detlev K. im Gespräch
Kücheninterview am 22. Juni 2013 auf Burg Waldeck
Der Autor und Moderator Dr. Seltsam gehört zu den Begründern der Berliner Lesebühnen und Mix-Kultur-Shows. Seit über zwanzig Jahren hat er neben seinen originellen Demoauftritten immer neue Showformate geschaffen. In “Dr. Seltsams Wochenschau” geht es um Ökonomie und Antifaschismus, politische Justiz, Kriege, Krise, Kommunismus, Hartz-IV, Miete und die Allerärmsten Berlins. Zahlreiche Kabarettisten, Musiker, Sänger, Autoren und andere interessante Zeitgenossen waren bereits bei ihm zu Gast.
Detlev K. feierte im vorigen Jahr sein 60jähriges Bühnenjubiläum. Zunächst in Kinderchören, später Schlagzeuger und Sänger als Gebrauchsmusiker in Tanzkapellen und Rockformationen, spielt er seit 2001 linke Lieder und hat sich in Berlin als professioneller Musiker und Interpret politischer Texte sowie als Mitarbeiter der Onlinezeitung “Trend” einen Namen gemacht. Er ist einer der Initiatoren und Aktivisten der Initiative Kotti&Co, der Mietergemeinschaft aus den Sozialwohnungsbauten am südlichen Kottbusser Tor. [1]
Beim Linken Liedersommer vom 21. bis 23. Juni auf Burg Waldeck moderierte Dr. Seltsam, musikalisch unterstützt von Detlev K., den Workshop “Kunst als Waffe”. Anschließend waren die beiden gerne bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten. Da sie in der Mittagspause zusammen mit anderen freiwilligen Helfern den Abwasch übernommen hatten, bot es sich an, das Gespräch in der Küche zu führen.
Dr. Seltsam
Foto: © 2013 by Schattenblick
Schattenblick: Wir stehen in der Küche mitten im Getriebe harter Abwascharbeit. Ich sehe hier Künstler, die per Hand abwaschen und mit dem Handtuch das Geschirr abtrocknen.
Dr. Seltsam: Ich muß immer wieder sagen, daß die Erfindung der Geschirrspülmaschine zu den wichtigsten Fortschritten der Menschheit gehört. Hier sind sechs Leute beschäftigt, und am Ende ist es doch nicht so superhygienisch. Aber das ist schon in Ordnung. Ich hoffe nur, es ist nicht ideologisch gemeint, daß man hier mit der Hand abwäscht.
SB: Du hast auf jeden Fall als Künstler überhaupt keine
Berührungsängste.
DS: Nein. Sauberes Geschirr mag ich. Was ich ehrlich gesagt nicht mag, ist, die dreckigen Teller in die Spülsoße zu tun und dann mit so einem fettstarrenden Besen daran herumzureiben. Aber nein, es ist hier sehr hygienisch, nicht, daß ein falscher Eindruck entsteht. Ah, sehr schön, neuer Nachschub. Die Löffel da rein ….
SB: Du hast in deinem Workshop betont, daß die Person des Künstlers sehr wichtig ist.
DS: Der Künstler muß authentisch sein. Wenn man merkt, daß er spinnt oder das nur gegen Geld macht, kann von Authentizität keine Rede sein. Wir haben ja einige Beispiele von Künstlern genannt, die heute kein Mensch mehr mit linker Politik in Verbindung bringt. Dieter Bohlen war mal in der DKP, Reinhard Mey ist auf der Waldeck aufgetreten – ich hätte jede Wette dagegengehalten und das für unmöglich erklärt, weil er für meine Begriffe so ein – unpolitisch ist gar kein Ausdruck – so ein affirmativer, die wirklichen Verhältnisse nur beschönigender Künstler ist, da ist ja nichts Linkes übrig. Das meinte ich. Da muß schon eine Authentizität da sein, daß man selber für sich als Mensch die gesellschaftliche Entfremdung überwinden will. Wenn man das nicht will, dann ist man natürlich auch kein linker Künstler, weil es einen nicht wirklich interessiert. Dann will man, wie Jürgen Eger vorhin so schön sagte, nur die Mädels haben, wenn man mit der Gitarre am Lagerfeuer rumsitzt.
SB: Wie hat es sich denn in deiner persönlichen Lebensgeschichte zugetragen, daß du zu dem Künstler wurdest, der du heute bist?
DS: Ich bedauere zutiefst, daß ich weder Ballett noch singen kann – Katrin lacht, die hat mich mal singen gehört. Also, das ist wirklich schade, das kann ich alles nicht, malen auch nicht. Aber ich habe überhaupt keine Angst davor, öffentlich aufzutreten und ganze Menschenmengen im Zaum zu halten, das ist ja wie im Zirkus, ich habe auch schon vor 55.000 Menschen beim Festival Open Air in Detmold moderiert. Daß ich das kann, habe ich irgendwie entdeckt, ich weiß gar nicht wann. Ich weiß nur, daß ich als Kind unglaublich schüchtern war. Ich mußte in der Schule mal “Im Märzen der Bauer die Rößlein anspannt” singen und da habe ich das Weinen und eine Sechs gekriegt. Das gehört zu den traumatischten Erlebnissen meines Lebens. Also, das konnte ich gar nicht. Ich weiß nicht, wann es losgegangen ist. Aber du fragtest ja, warum das losging, nicht?
Das Warum war klar. Wir waren eine größere Gruppe fortschrittlicher netter Menschen, Journalisten bei der ehemals linken taz, der Tageszeitung in Berlin. Ich habe Theater- und Fernsehkritiken geschrieben und hatte einen ganz tollen Redakteur, der mich immer verteidigt hat, das war Wiglaf Droste. Den verteidige ich deswegen noch heute, obwohl er häufig angegriffen wird, es sei alles so seicht, was er macht. Nein, das ist ein anständiger Kollege, der auch nette Sachen schreibt. Dann hat die taz mal wieder einen ihrer beliebten Rechtsschwenks gemacht, und da flogen zwölf Leute raus, darunter ich. Ich war mit Abstand nicht der wichtigste, da waren Michael Stein, Helmut Höge, Wiglaf Droste, Klaus Nothnagel und andere dabei.
Dann haben wir uns getroffen und gesagt, eigentlich schreiben wir ja total gerne, aber wir haben keine Lust auf diesen Nerv mit der Zeitung. Warum nehmen wir nicht ein kleines Theaterchen, das uns einlädt, und lesen die Sachen einfach vor? Unsere Premiere hat im Eiszeitkino in Kreuzberg stattgefunden, und sie lief gut. Dann haben wir mal richtig mit Ankündigung – “Die höhnende Wochenschau” hieß das – das Schauplatztheater in der Dieffenbachstraße, das gibt es heute gar nicht mehr, von Anfang an gefüllt. Jeden Sonntagmittag haben wir unsere Sachen vorgelesen, so unterschiedliche Menschen wie wir waren. Es waren tolle Sachen dabei, zum Beispiel eine Direktreportage aus dem Sinnlostal, wo die Autos ineinanderkrachen. Einmal ist einer von uns nach Barcelona gereist und hat eine telefonische Livereportage über den Dreck in den Straßen vor der Olympiade gemacht, also das waren Höhepunkte. Ich habe einmal Ärger bekommen, weil ich in einem Beitrag den Schwarzen Kanal verteidigt habe, weil ich ihn für ganz große Medienkunst und medienpolitisch immer noch unerreicht halte – aber der hatte ja auch einen Riesenapparat, der Schnitzler. Und dann haben wir uns ein bißchen gestritten, wie das so ist.
Eines Tages kamen Leute von der Uni, die das auch toll fanden und so etwas machen wollten, und haben mich gefragt: Dr. Seltsam, willst du nicht bei uns mitmachen? Und da ich den Streß kannte, war ich ganz unbescheiden und sagte, gut, aber nur, wenn das nach mir heißt. Und so hieß es also “Dr. Seltsams Frühschoppen”. Damit sind wir in Berlin wirklich berühmt geworden. Wir sind zehn Jahre lang vor 300, 400 Zuschauern in der Kalkscheune aufgetreten, es war immer voll. Und obwohl wir nur Spenden genommen haben, kam irrsinnig viel Geld zusammen. Die Spendeneinnahmen überstiegen sogar unsere normalen Arbeitseinkünfte. Mir bedeutet Geld nicht viel, aber hätte ich das damals gewußt, daß ich mal arm wie eine Kirchenmaus sein werde, hätte ich wahrscheinlich ein bißchen mehr gespart. Es waren junge Studenten der Germanistik, ich war mit zehn Jahren Abstand der Älteste, und unser System bestand darin, einfach Geschichten über Alltagserfahrungen zu erzählen. Beispielsweise hätte man dieses Abwaschen hier in der Vorantike wunderbar zu einem dieser typischen Lesebühnenspots verarbeiten können und die Leute hätten gelacht. Allerdings frage ich mich noch heute, worüber die eigentlich gelacht haben. Wir brachten doch nur so Alltagsgeschichten, wie ich im Bus mal eingeschlafen bin oder was die Nachbarn erzählen.
Das war mir dann langsam zu unpolitisch. Aber ich hatte die Moderation und konnte das immer ausgleichen. Wir waren tatsächlich die erste Lesebühne. Im Internet steht etwas anderes, aber das liegt an neidischen Ostlern, die das unbedingt erfunden haben wollen. Das ist gar nicht wahr, die kamen alle zu uns, die glatzköpfigen Jungs aus Lichtenberg und Friedrichshain, und sind alle bei uns aufgetreten, haben das gelernt und dann ihre eigenen Lesebühnen gegründet. Heute gibt es 40, 50 über die ganze Republik, also eine eigene Kunstform sozusagen – die einzige neue Kunstform, die nach 1989 aus dem Volk entstanden ist. Das ist auch schön, da können junge Menschen ihre ersten künstlerischen und Theatererfahrungen machen. Ich habe da gar nichts dagegen. Nur wenn es so im Alltagsleben verharrt, kann ich da persönlich nicht mehr so drüber lachen. Da muß man eben auch Künstler sein. Einmal gab es die Zeitgeistkunstausstellung im Gropiusbau in Berlin, über die wir empört waren, weil die letzte Dreckskunst, so Mickymausfiguren aus Porzellan und diese Fickfiguren von Jeff Koons, als der letzte Schrei angepriesen wurden. Jürgen Witte hat einen satirischen Text geschrieben, in dem er einen Beate-Uhse-Laden als Museum beschreibt: Die Künstlerin verpackt ihre wertvollen Werke in dicken, undurchsichtigen Plastikhüllen, überall steht der Preis drauf, und so weiter. Das hat derart eingeschlagen, daß uns das besetzte Haus, in dem wir das damals gemacht haben, rausgeschmissen hat, weil sie meinten, das sei ja so sexistisch. Dabei war es genau das Gegenteil, es war die Darstellung dieser bürgerlichen Presse als Kunsthure. Das haben sie nicht verstanden, und deshalb sind wir rausgeflogen.
Es gab noch ein paar andere Orte, an denen wir spielen konnten, doch dann hat es sich langsam aufgelöst, weil es, wie ich schon angedeutet habe, immer unpolitischer und auf Lachen abgestellt wurde. Horst Evers, mein berühmt gewordener damaliger Freund, hat einmal gesagt, um einen politischen Witz zu machen, muß ich zuerst das Setting haben, dann muß ich erklären, worum es geht, und dann muß ich noch den Witz erklären. Und am Ende muß ich noch sehr viel Glück haben, daß jemand darüber lacht. Dagegen ist so ein Alltagswitz über meinen Hund etwas, das jeder sofort versteht. Ich weiß nicht, ob das stimmt, denn ich bemühe mich ja, politische Witze oder politische Kalauer zu machen, über die eigentlich jeder sofort lachen kann. Aber es stimmt, ein bißchen Bildung muß man meistens schon haben, das merke ich auch, und ich bin ja auch nicht mehr so erfolgreich wie die mit ihren alltagshumoristischen Sachen. Also das ging dann mehr in Richtung Comedy, was ein furchtbares Wort ist, das ich hasse. Mir ging es immer noch um Erkenntnis.
Also sagte ich eines Tages, paßt mal auf, Leute, wir haben hier ein echtes Armutsproblem. Es gibt Menschen, die müssen von 300 Mark leben und gehen ein. Und wir sind im Krieg, wir haben eine Regierung von Kriegsverbrechern, da kann man nicht mehr nur so lächerliche Sachen machen. Als ich sonntags hinkam, wurde mir eröffnet, sie hätten einstimmig beschlossen, daß ich die Worte “Uranmunition”, “Fischer”, “Kriegsverbrecher” und “Jugoslawien” nicht mehr sagen dürfe. Ich habe das natürlich in meiner Moderation sofort aufgegriffen, und darüber kam es zum Bruch. Da waren sie desavouiert als Billigunterhalter, und ich war der korrekte Politiker, den sie dann alle hassen. Die waren natürlich alle irgendwie gegen den Krieg, aber nicht so entschieden gegen Grün. Wir haben uns also unter großen Bauchschmerzen und Streitereien getrennt, ich habe “Dr. Seltsam” behalten und sie haben “Frühschoppen” behalten. Jetzt gibt es also in Berlin noch den Frühschoppen in irgendsoeiner Jazz-Kneipe in Charlottenburg, glaube ich, und es gibt “Dr. Seltsams Wochenschau”, in der ich wieder an “Die höhnende Wochenschau” aus der Anfangszeit angeknüpft habe. Damit fühle ich mich persönlich sehr wohl, ich habe keine Bauchschmerzen mehr, alles gesund, alles prima. Das habe ich lange jeden Sonntag gemacht, und jetzt mache ich es noch einmal im Monat, weil es einfach zu teuer wird. Ich habe zwar nur eine geringe Miete zu bezahlen, aber die muß man als Sozialhilfeempfänger erst mal aufbringen. Einmal im Monat geht es gut und macht sehr viel Spaß.
Da ich so etwas seit 20 Jahren mache, haben wir in Berlin doch einen gewissen Bekanntheitsgrad, und so kommen auch Leute, die ich nicht in eine normale Veranstaltung kriegen würde. Am ersten Sonntag im Juli kommt beispielsweise Hans-Christian Ströbele, der einzige direkt gewählte Abgeordnete der Grünen und erklärte Kriegsgegner. Der hat im Bundestag mal den Parlamentspräsidenten beiseite geschoben und gesagt, jetzt rede ich: Wenn ihr Raketen schießt, will ich dazu was sagen – der Liebknecht der Grünen sozusagen – den kann ich guten Gewissens unterstützen. Wir hatten auch mal eine Wählerinitiative, die hieß “Grüne raus, Ströbele rein!” – wie man weiß, war die nur zur Hälfte erfolgreich. Und der kandidiert nochmal, obwohl er krank und 78 Jahre alt ist, und das unterstütze ich, den lade ich ein. Ich habe ihn einmal gefragt – bei mir ist ja offenes Haus -, sag mal, einige deiner Mandanten sind ja vom Staat umgebracht worden, oder nicht? Jedenfalls hast du es damals behauptet. Darauf antwortete er, ja, das sage ich immer noch. Der sagt das bei mir offen, daß die Gefangenen der RAF in Stammheim nicht Selbstmord begangen haben. Nun sitzt er aber selber im G10-Ausschuß der Geheimdienste. Also fragte ich ihn: Hast du dir nicht als erstes die Akten vorlegen lassen? Darauf er: Ja natürlich, doch dann hätten sie ihm erklärt, das sei leider Ländersache und er säße im falschen G10-Ausschuß.
Solche Einzelheiten erfährt sonst kein Mensch, das erfährst du nur, wenn du Leute ein bißchen mehr ins Gespräch verwickelst. Das ist für mich Inhalt von politischem Kabarett. Also Sachen rauskriegen, die kein anderer weiß, und dann ergibt sich der Witz im altdeutschen Sinne, daß es klick macht, von selber. Leuten, die uns vorwerfen, wir seien nicht lustig, versuche ich dann immer zu erzählen, daß das Lustige oder Witzige nicht daher kommt, daß dauernd gelacht wird. Vielmehr geht man raus und sagt, das hätte ich nicht gedacht, jetzt muß ich an meiner Weltsicht doch eine kleine Umdrehung nach links vornehmen. Manchmal funktioniert das, glaube ich, es wird jedenfalls gesagt. So habe ich also jeden Monat irgendeinen Gast. Einer meiner Lieblingsgäste ist ja Rainer Rupp, den ich als einen der wenigen Helden dieser Welt verehre, dem die Schuhriemen zu lösen ich nicht wert bin. Oder Leute von der GRH, die an der Grenze der DDR Dienst getan haben und heute als Stasi-Mörder verketzert werden. Alles Blödsinn, vom Westen her sind Leute getötet worden, und Leute, die im Osten desertiert sind, sind auch umgebracht worden. Das waren Kalter-Krieg-Methoden kurz vor dem Heißwerden, und da muß man jetzt nicht als Westler sagen, unsere waren besser. Diese Gäste spüren, daß ich sie solidarisch behandle und jedenfalls nicht verketzere – das sind Gäste, die ich gerne mag. Aber natürlich kommen auch Künstler, Jane Zahn war auch schon bei mir, die nachher hier referiert und singt. Was mich im Moment sehr interessiert, sind diese Radiogeschichten, und ich muß auch zu meiner Schande gestehen, daß ich bisher nicht wußte, daß es euch gibt. Ich komme mit dem Internet Null zurecht und sage immer, mein Internet ist runtergefallen.
SB: Du machst dich also über Dinge lustig, über die man nicht lachen darf?
DS: Es ist das Beste, wenn ich das schaffe. Aber das gibt’s ja kaum noch. Es war ja vorhin im Workshop ein großer Witz, daß Detlev ein Lied über die RAF singt, das ihm der frühere DKP-Vorsitzende Heinz Stehr hinter der Bühne mit den Worten verboten hat, deine Karriere ist zu Ende. Inzwischen ist aber die Karriere Heinz Stehrs zu Ende, während Detlev mit Degenhardt auftritt. Sowas finde ich natürlich toll. Jetzt ist Patrik Köbele Vorsitzender und hat auch schon zugesagt zu kommen, aber wahrscheinlich erst nach der Bundestagswahl. Ich wollte verhindern, daß er vor der Wahl wieder dieses übliche “wir kriegen garantiert 4,9 Prozent” sagt, wo doch jeder weiß, daß sie das nicht erreichen. Das wollte ich verhindern. Aber ihn nach der Wahl zu fragen, woran es denn nun liegt, daß wieder keine Kommunisten im Bundestag sind, das ist eine faire Frage, finde ich. Ich will ihn ja auch nicht in die Pfanne hauen. Ich bin nicht in der DKP, weil ich diesen Parteinamen so affig finde. Die Kommunistische Partei, in die ich eintreten würde, ist 1956 verboten worden, und einen Ersatz will ich nicht. Ich finde den Parteinamen DKP so lächerlich, aber das ist im Grunde das einzige, was ich gegen die habe, außer daß sie nicht so richtig bedeutend sind, aber das kann man ihnen nicht vorwerfen.
SB: Kann man dich denn in irgendeiner anderen Form als organisiert bezeichnen?
DS: Ich bin Gewerkschaftsmitglied, Fachschaft Medien, wie es sich gehört. Und was ich selber mache, ist ja organisieren. Es kommen viele Leute regelmäßig zu uns, die Mühseligen und Beladenen, wie Jesus sagen würde, weil wir keinen Eintritt nehmen und ein Glas Wasser gibt’s da auch umsonst. Einmal sind wir aus einer Kneipe rausgeflogen, weil einer unserer Stammgäste einen Teebeutel mitgebracht hatte und ein Glas heißes Wasser umsonst verlangt hat. Da hat der Wirt gesagt, weißt du, eigentlich geht’s uns ja doch ums Geschäft. Habe ich auch verstanden, aber was willst du mit solchen Leuten machen! Die einzigen wahren Helden sind die Massen, aber manchmal, wenn sie nicht revolutionär sind, sind sie eben unglaublich bescheuert und begreifen nix. Da muß man durch. Wir sind jetzt in einem sehr schönen Laden, der heißt Brauhaus Südstern. Ich lade alle ein, jeden ersten Sonntag im Monat und zwar jeden ersten Sonntag, egal, ob er auf den 1. Mai fällt, ist Dr. Seltsam-Tag. Da kommt man leicht hin, U-Bahn Südstern und dann ist es da gleich. Eintritt frei und man kann meistens mitdiskutieren, wenn nicht der befragte Diskussionsredner so viel zu erzählen hat, daß es nicht geht. Es macht
Spaß und ist erkenntnisreich.
SB: Es gab heute eine Situation, in der du von einem großen Konzert im Zuge der Nelkenrevolution in Portugal erzählt hast und sichtlich davon berührt warst. Wenngleich du ja auch ein Showtalent bist, konnte doch in diesem Augenblick jeder merken, wie viel dir das noch heute bedeutet.
DS: Wenn du mit Show meinst, daß etwas vorgegeben ist, war es sicher keine. Ich habe keine Schauspielerausbildung und kann gar nicht auf Kommando weinen, lachen schon eher. Aber was ich mache, ist immer echt, selbst wenn es sich um eine Show handeln sollte. Ich bekomme ja kein Geld und erzähle nur das, was ich wirklich sagen will. Gott sei Dank! Ein unglaubliches Privileg. Frag mal rum, welcher Journalist, welcher Kabarettist, welcher Fernsehmensch von sich sagen kann, daß er niemals was sagen muß, hinter dem er nicht hundertprozentig steht. Ich habe einen guten Freund in Lübeck, der ist Psychiater und sagt immer – ich bin, unter uns gesagt, so ein Stalin-Fan – daß Stalin auch viel geweint habe: Du weiß ja, Sentimentalität ist die Kehrseite der Brutalität. Damit hat er mich natürlich immer geplättet. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber ich kenne aus meinem Familienkreis ein paar widerliche Soldaten, die alle unheimlich gerührt waren, wenn ihre Frauen starben, die sie selber ins Grab gebracht haben. Das macht mir immer ein bißchen Sorgen, ob ich das nicht vielleicht auch habe.
Ich hasse natürlich die Bourgeoisie und bin sogar manchmal Christ und hoffe, daß Jesus wiederkommt und hier Ordnung schafft, so weit geht das. Aber natürlich weiß ich, daß es eher die organisierte Massenbewegung machen muß. Wenn ich allerdings nur einen Tag Deutschlandfunk höre, bin ich so fertig, weil wir Arbeitslosen ein Dreck sind. Wir sind ja nicht wert, daß wir atmen. Es zählt ja nur, wer sich Autos kaufen kann, wer den Konsumscheiß mitmachen kann, das ist ja furchtbar. Da bist du am Abend völlig fertig. Noch schlimmer war es beim Fernsehen. Ich habe jetzt seit vierzehn Jahren keinen Fernseher mehr, weil ich den eines Tages aus Wut aus dem offenen Fenster geschmissen habe. Wir sind als Arbeitslose doch keine Untermenschen, aber wir kommen nicht vor. Bis in die Serien hinein haben alle Leute, die als unterbemittelt dargestellt werden, ein größeres Einkommen als ich. Das macht schon neidisch, und um nicht depressiv zu werden, habe ich den Fernseher abgeschafft und höre Kassetten mit Paul Temple oder etwas von Agatha Christie zum Einschlafen, das ist wunderbar, und ein bißchen Musik.
SB: Heute kam ja heraus, daß du auch in musikalischer Hinsicht keine Berührungsängste hast und Musik, die zu einer bestimmten Zeit emanzipatorisch assoziiert war, zu würdigen weißt.
DS: Na, auf jeden Fall! Ich bin ein großer Fan von Wolfgang Steinitz, Volkslieder demokratischen Charakters, das kann ich rauf und runter beten. Deswegen war der eine Diskussionsbeitrag vorhin auch unzutreffend, denn mit dem Kuckuck, der auf einem Baum saß, ist natürlich die Revolution gemeint, die vom preußischen König erschossen wird und im nächsten Jahr wieder da ist. Aber das ist im Grunde egal, da mir die Thesen viel wichtiger sind, die ich daraus abgeleitet habe. Da sitzt die Revolution auf dem Baum und singt nicht, weil es verboten ist. Aber wenn man es denn darf, dann soll man’s auch machen, war meine ermunternde These. Die Leute sollen sich nicht damit herausreden, daß man 1848 auch nur in verschlüsselten Reimen sprechen konnte. Nein, wenn man es kann, soll man so deutlich wie möglich sagen, was man meint. Es ist nämlich schwierig, so deutlich wie möglich und so böse wie möglich so zu sprechen, daß den Herrschenden wirklich der Arsch auf Grundeis geht. Und das funktioniert! Ich habe eine wunderbare Geschichte von Eberhard Schultz, Menschenrechtsanwalt und Arbeitsrechtler aus Berlin, mit dem wir gut befreundet sind. Der hat mir erzählt, daß er mit Dutschke auf dem Land mal irgendwas regeln mußte. Damals sagte der dortige Bürgermeister, ich helfe Ihnen, aber wenn Sie an der Macht sind, dann denken Sie auch an mich. Das ist für mich ein gutes Beispiel für gesellschaftliche Hegemonie. Das kann man durch Kultur auch dann erreichen, wenn die Machtverhältnisse überhaupt noch nicht soweit sind. Man kann so viel Zinnober machen, daß die Opportunisten, die immer alles sofort riechen, den Anschluß nicht verlieren wollen. Das ist nun einmal der Lauf der Welt. Da verdanke ich Gramsci sehr viel, der diese Hegemonie deutlich gemacht hat, indem er sagt, man könne selbst in Zeiten größter Repression unter dem Faschismus auf einigen Gebieten kulturelle Hegemonie erreichen. Und das versuche ich natürlich mit meiner Wochenschau. Aber das geht nur, wenn man in den paar Freiräumen, die man hat und findet, so deutlich redet, daß sich das verbreitet und Herrschende Angst bekommen. Und die haben sehr viel Angst. Es ist beispielsweise bekannt, daß Springer unheimlich Schiß hatte, noch bevor der Bombenanschlag verübt wurde. Er umgab sich mit Leibwächtern und ist fast verrückt geworden vor Angst. Also, das hilft. Wie Brecht sagte: Das Unrecht hat Namen und Anschrift – dann gehen wir es doch mal besuchen.
Das ist für mich Hauptkennzeichen guter Politik.
Detlev K.
Detlev K.
Foto: © 2013 by Schattenblick
Detlev ist ja in dieser Platzbesetzergruppe aktiv, und die gehen auch dahin, wo die zuständigen Leute sitzen. Was er so erzählt hat, haben die ganz schön Schiß, wenn die Truppe da ankommt: Unbewaffnet, zu sechst und höflich, aber …
Detlev K.: Ich kann dir sagen, wenn du darüber etwas wissen willst, dann empfehle ich den Schattenblick. Die haben ganz viel darüber geschrieben.
DS: Das mußt du mir einstellen an meinem Computer. Ich weiß nicht, wie das geht.
DK: Google, Schattenblick, und dann kommt es schon.
DS: Gut, daß ich das jetzt weiß. Seid ihr den ganzen Tag an?
DK: Dich hat Frau Merkel gemeint, als sie sagte, Internet ist was ganz Neues (lacht herzhaft). Ich glaub’s ja nicht! Alles, was wir sagen, und sei es der größte Scheißdreck, steht bis in alle Ewigkeit im Internet drin. Der Verfassungsschutz schaut rein, die CIA, alle.
SB: Dr. Seltsam, du hast heute erfreulicherweise die Fragestellung in der Weise offengehalten, daß man nicht sagen kann, Kunst werde erfolgreich sein, wenn man sie nur auf diese oder jene Weise macht.
DS: Ich weiß nicht mal, wie Kunst ökonomisch erfolgreich ist. Nicht mal das kann ich sagen. Ich kann nur den paar linken Künstlern, die es gibt, den Zahn ziehen, daß es ein Erfolgsmodell gäbe. Am wichtigsten ist – das hat Detlev ja auch gesagt -, daß man Teil einer Bewegung sein muß. Und man darf dort nicht Chef sein wollen, sondern macht mit und meldet sich bescheiden mal hier, mal da, daß man dazu noch ein Lied habe. Dann ist man Teil einer Bewegung und kann hoffen, daß man von den anderen auch gestützt wird, wenn man verhaftet wird. Das ist ja ganz wichtig.
DK: In der Platzbesetzer- und Mieterszene wissen sie gar nicht, daß ich Musik mache. Die kennen mich nur als Aktivisten, der ihnen Mut zuspricht und sagt, da müssen wir hingehen. Die Musik ist für mich sowieso nicht das Wichtigste.
SB: Sind das für dich zwei getrennte Dinge?
DK: Es ist überhaupt nicht getrennt, ich stelle die Musik nur nie in den Vordergrund. Manchmal sage ich, okay, ich spiel mal ein bißchen was. Ich habe zwei, drei Lieder direkt über Zwangsräumung und eine Frau, die damit quasi umgebracht wurde, weil das so brutal ist und sich sonst keiner dieser Sache kulturell annimmt. Manche haben das gehört, andere wissen es nicht, das ist mir auch nicht wichtig, absolut nicht. Mir ist natürlich bekannt, daß manche Leute sagen, ich gehe da hin, wo etwas los ist, damit die dann anschließend meine Platten oder CDs kaufen. Irgendwo ist Streik, da gehen diese Leute hin, singen was und sagen, meine CD habe ich auch mitgebracht. Das ekelt mich an, sowas!
DS: Ein wirklich ganz mieses Beispiel war folgendes: Zu mir kommen seit 20, 30 Jahren immer mal wieder junge Gruppen, die Friedenslieder machen. Als George W. Bush damals nach Berlin kam, wurde eine große Friedensdemo organisiert, an der alle möglichen Gruppen teilnahmen. Als es dann hieß, wer auf der Bühne spielen sollte, dachte ich natürlich, unsere bescheidenen Berliner Friedensgruppen dürfen auch mal ran. Aber nein, Diether Dehm zückt sein Notizbuch, zack, zack, zack, Konstantin Wecker, Hannes Wader, die wollten sowieso ihre neue CD rausbringen, und dann nehmen wir Reinhard Mey noch dazu, und zack war das Programm fertig. Wir wurden nicht mal gefragt und durften nur demonstrieren. Das ist ja schön, wenn einer solche Verbindungen hat, und für die Demonstrierenden war es wahrscheinlich auch gut, aber trotzdem war das für uns ganz schön ernüchternd.
DK: Der Dehm hat das Geld erst in die linke Szene reingebracht. Das ist der größte Mist überhaupt!
DS: Jetzt bringt er mich wieder durcheinander, wie er das immer auf der Bühne macht. Also ich bin dafür, daß lieber Leute, die das nicht so perfekt können, aber sich bemühen, ruhig mal vor 20.000 Leuten auftreten dürfen. Vielleicht ist das ja ein Quantensprung in ihrer Kunst. Als ich früher den “Club Existentialiste” so frankophil betrieben habe, hielt ich es immer so: Leute, ihr dürft nur auftreten, wenn ihr politische Lieder macht. Tut mir leid, es gibt keine Zensur, aber das muß sein. Dann sagten sie oft, aber wir kennen keine politischen Lieder, das ist irgendwie blöd. Ich erwiderte, wie, “Partisan” kennt ihr nicht? Das hat doch sogar schon Leonard Cohen gesungen. Das kannten sie natürlich. Und wie ist es mit dem “Deserteur” von Boris Villon? Das hatten sie in Frankreich als Kinderlied schon im Kindergarten gehört. Daß dieses Lied ursprünglich so politisch war, daß Passagen verboten wurden, war ihnen nicht bekannt.
(An dieser Stelle – der Abwasch ist so gut wie beendet – wird das Interview durch eine überraschende Sektpause unterbrochen.)
Monique Broquard (Organisatorin und guter Geist des Linken Liedersommers): Ich möchte dem Spüler danken. Genosse Spüler, trink mit uns! Auf dein Wohl!
DS: Wenn ich das sagen darf: Der Spüler beim Gemeinschaftsabwasch ist wie der Lokführer, der Lenin von Finnland nach Rußland gebracht hat.
(Dr. Seltsam, trotz oder vielleicht gerade wegen der Gleichzeitigkeit von Abtrocknen und Interview gut gelaunt und erzählerisch in Hochform, nimmt den Faden wieder auf):
DS: Und dann sangen sie wunderbar das Lied vom Deserteur, das es in zwei Fassungen gibt. In der einen, die für den Schulgebrauch genehmigt ist, heißt es: “Und ihr könnt sagen, Monsieur le Président, ich verweigere den Kriegsdienst, und wenn Sie Ihre Gendarmen schicken, werde ich mich nicht wehren.” Wie ich unseren französischen Künstlern erklären mußte, lautet der Originaltext: “Dann schickst du deine Gendarmen, aber ich weiß wohl zu zielen!” Das wußten die gar nicht, und wupps hatten wir tolle politische Lieder. So habe ich das immer gemacht. Ich habe auch riskante Sachen angefaßt und einmal einen französischen Partisanen, Gerhard Leo, der in der DDR gewohnt hat, gebeten, seine Erlebnisse zu erzählen. Das war unglaublich! Der ist von den Nazis dreimal zum Tode verurteilt worden und jedesmal entwischt. Das hat er erzählt, und ich dachte, die jungen Menschen werden alle abhauen. Aber nein, es war so still, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören. Das hat sie alle bewegt, genau wie mich. Das war der Durchbruch, da habe ich gelernt, ach so geht Kunst. Man muß die authentische Person haben, die schon das Weiße im Auge des Feindes gesehen und abgedrückt hat. Dieses Gefühl muß man bringen. So ist es einfach. Das ist authentische linke Kultur, so sollte man das nach meiner Erfahrung machen.
SB: Dann ist vielleicht ein Sprung über die Generationen möglich, wenn ein solcher Mensch auftritt?
DS: Ja, genau. Wenn die jungen Zuschauer merken, der ist zwar 70, hat aber drei Drecksäcke persönlich aufgehängt und erzählt, wie das Gefühl dabei war, dann interessiert das natürlich auch einen Sechzehnjährigen. Denn der hat diese Erfahrung hoffentlich nicht gemacht.
Gut, ich bedanke mich sehr und hoffe, daß ich das im Internet kriegen werde, wenn es nicht mehr runtergefallen ist.
SB: Dr. Seltsam, Detlev, ich danke euch für dieses aufschlußreiche Küchengespräch.
Fußnoten:
[1] http://www.linker-liedersommer-waldeck.de/?page_id=253
Bisherige Beiträge zum Linken Liedersommer auf Burg Waldeck im Schattenblick unter INFOPOOL ? MUSIK ? REPORT:
BERICHT/013: Eine Burg und linke Lieder – wie alles kam (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0013.html
BERICHT/014: Eine Burg und linke Lieder – Soziales nach Noten (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0014.html
BERICHT/015: Eine Burg und linke Lieder – Die Kunst zu treffen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0015.html
INTERVIEW/019: Eine Burg und linke Lieder – Nieder und Lagen und Blicke voran, Kai Degenhardt im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0019.html
22. Juli 2013