Eine Burg und linke Lieder – Liederparadies im Schatten, Gina und Frauke Pietsch im Gespräch
Interview mit Gina und Frauke Pietsch am 23. Juni 2013 auf Burg Waldeck
Die Sängerin und Schauspielerin Gina Pietsch blickt auf eine langjährige Karriere als Bühnenstar sowie Solistin in zahlreichen Radio- und Fernsehproduktionen der DDR zurück. Nach einem Studium der Germanistik und Musik an der Karl-Marx-Universität Leipzig lernte sie Chanson bei Gisela May an der Hochschule für Musik “Hanns Eisler” in Berlin und absolvierte das Fach Schauspiel an der Hochschule für Schauspielkunst “Ernst Busch” in Berlin. Bis heute unterrichtet sie diese Fächer neben ihrer Arbeit als Solokünstlerin, die auch auf diversen CDs dokumentiert ist. Sie verfügt über ein Repertoire von rund 40 Abenden mit Texten und Liedern zahlreicher Autoren von Erich Fried über Heinrich Heine bis zu Mikis Theodorakis, ist aber insbesondere für ihre Interpretationen der Werke Bertolt Brechts bekannt, die sie in 18 Programmen zu verschiedenen Themenstellungen präsentiert.Ihre Tochter Frauke Pietsch ist Musik- und Kommunikationswissenschaftlerin, arbeitet seit 1997 als Fachübersetzerin und hat ihrerseits eine musikalische Karriere als Sängerin und Klavierspielerin in Angriff genommen. Beim diesjährigen 5. Linken Liedersommer auf Burg Waldeck bestritten Gina und Frauke Pietsch das Abschlußkonzert mit dem leicht gekürzten Programm “Doch hör nicht auf mich – Mütter-Töchter-Lieder und -Texte”. Im Anschluß daran beantworteten sie dem Schattenblick einige Fragen.
Frauke und Gina Pietsch beim Linken Liedersommer
Foto: © 2013 by Schattenblick
Schattenblick: Gina, du hattest erwähnt, daß du Franz Josef Degenhardt gut kanntest. Wie ist es dazu gekommen und inwiefern hat das mit seinen Auftritten auf Burg Waldeck zu tun?
Gina Pietsch: Ich bin seit 1974 beim Pressefest der UZ aufgetreten, wo Franz Josef Degenhardt das DDR-Lied “Dieses Deutschland meine ich” sang. Ich bin anschließend zu ihm hingegangen und habe gesagt, daß ich aus der DDR komme, und mich für das Lied bedankt. Das war 1974, und von da an war er oft in der DDR beim Festival des politischen Liedes. Wir hatten uns damals schon angefreundet, und ich habe ihn dann öfters bei seinen Besuchen betreut. Beim Jugendradio DT64, wo ich damals arbeitete, haben wir mehrere Porträts über ihn gemacht. Wir sind uns mindestens einmal im Jahr begegnet.
Nach dem Fall der Mauer haben wir uns nur einmal gesehen, als ich meinen Heine-Abend in Pinneberg gespielt habe und er diesen Auftritt zusammen mit Kai besuchte. Ich kenne die ganze Familie, und wir haben viel miteinander telefoniert und kommuniziert. Natürlich hat mich auch das größere Umfeld der politischen Liedermacher in der BRD interessiert, so habe ich Dieter Süverkrüp und Hannes Wader kennengelernt. Durch das Festival des politischen Liedes, was in Berlin seit 1971 stattfand, standen wir immer in engerem Kontakt. Daher wußte ich auch von den Festivals auf Burg Waldeck und erfuhr viel über die Hintergründe dieser legendären Treffen. Ich bin heute zum ersten Mal hier, und ich habe mich natürlich gefreut, daß ich angesprochen wurde, hier zu spielen.
Dabei wurde zuerst an Marx gedacht, ich hätte gerne Brecht gemacht, dann gab es andere Vorschläge, und so wurde unser Programm mit “Mütter-Töchter-Liedern” gewählt, worüber ich mich freue, weil ich natürlich mit meiner Tochter ganz besonders gerne spiele. Für uns ist es noch ungewohnt, heute fand erst die dritte Vorstellung statt, und dazwischen waren immer große Abstände, weil wir beide sehr viel zu tun haben. Ich bin mittlerweile beim ungefähr 40. Soloabend angelangt, und daher sind die Abstände zwischen dem sich jeweils wiederholenden Programm so groß, daß es jedesmal fast wie eine Premiere ist. Heute kam natürlich noch hinzu, daß einige Titel entfielen. Solche Kürzungen sind immer Einschnitte, aber als erstes möchte ich schon über die Freude reden, die wir alle beide hatten, als wir eingeladen wurden. So war es schön, daß wir gestern noch reinschnuppern konnten und einen Überblick bekamen. Der ist natürlich insgesamt zu klein für dieses Festival, bei dem es ja um mehr geht als um Kunst. Deshalb finde ich es toll, daß das wieder auflebt.
SB: In den Workshops, an denen wir teilnahmen, kam das politische Lied aus der DDR kaum vor. Du warst Mitglied beim Oktoberklub, könntest du etwas zur Tradition des politischen Liedes in der DDR sagen?
GP: Meine Oktoberklub-Zeit war sehr kurz, von 1969 bis 1973. Dann entstand aus dem Oktoberklub die von mir gegründete Gruppe Jahrgang 49, in der ich bis 1980 aktiv war. Seit dieser Zeit mache ich meine eigenen Soloprojekte. Das politische Lied hat eine ganz große Rolle gespielt. Was wir damals als Singebewegung bezeichneten, ging bis auf die Folkbewegung, die aus Amerika kam, zurück. So entstand der Oktoberklub vor 1969, als ich nach Berlin kam, aus dem Hootenanny-Club, an dem auch der kanadische Folksänger Perry Friedman beteiligt war. Diese Bewegung war unheimlich wichtig. Nichts gegen Chöre, gute Chöre sind unverzichtbar, aber die Singebewegung hatte eine wichtige Funktion in der Abgrenzung zu Chören, weil sie sehr viel mehr Wert auf die Pflege des selbstgemachten, eigenen Liedes legte. In diesen Singe-Klubs wurden
die traditionellen Arbeiterlieder, Folklore oder Brecht/Eisler, was ja immer meine Strecke war, gepflegt, aber in zunehmendem Maße auch eine Gruppe von Liedern, die wir DDR-konkret genannt haben, was zur Veröffentlichung einer ganzen Reihe von CDs führte.
In den vielen Singegruppen und bei den vielen Liedermachern entstanden zahlreiche Lieder, die auch bei uns im Radio gespielt wurden, denn wir hatten keine restriktiven Auflagen, sofern es sich nicht um deutliche Anti-DDR-Aussagen handelte. Wolf Biermann wurde bekanntlich nicht im Radio gespielt. Damit taten wir uns schwer, an Biermann schieden sich immer die Geister. Ganz besonders bei seiner Ausbürgerung, die ein großer politischer Fehler war. Damit wurde echter Schaden unter uns Künstlern angerichtet, unabhängig davon, ob das nun Theater- oder Filmleute waren.
SB: Wie habt ihr Einschränkungen eurer künstlerischen Freiheit erlebt, wie seid ihr damit umgegangen?
GP: Wir fühlten uns nicht gut, wenn wir bei großen Auftritten die Programme einreichen mußten, um sie gegebenenfalls zensieren zu lassen, aber man gewöhnt sich daran. In unseren Texten haben wir ausgereizt, was ausreizbar war. Das war, wenn ich das mit dem vergleiche, was wir heute machen können, unheimlich spannend, denn wir konnten auch Tabus knacken und hatten eine gewisse Narrenfreiheit. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich nicht gesagt habe, was ich denke. Wenn ich dagegen heute mitbekomme, wie Leute, die gerade eine Arbeitsstelle ergattert haben, angehalten werden zu kuschen und sich überhaupt nicht trauen, ihrem Chef etwas zu sagen, kann ich das für die DDR-Zeit so nicht unterschreiben.
Die Kritikmöglichkeit und auch -fähigkeit war in der DDR wesentlich größer, als heute berichtet wird, das muß man einfach mal sagen. Das steht uns, die wir von dort kommen, auch zu. Wir nutzten die Kunst als besonderes Feld und trugen im Lied, im Theater oder in der neuen Literatur oft das vor, was nicht in den DDR-Zeitungen stand. Unsere Zeitungen logen, je mehr es in Richtung ’89 ging, immer mehr, daher befürworteten wir Glasnost und Perestroika, was auch jeder wußte. Und dann knackten wir Tabus. Das hat Spaß gemacht, und das ging auch gut, weil unser Publikum unsäglich aufmerksam war, das hörte ja die Flöhe husten. Wir waren alle mit Buchhändlern befreundet und erhielten von ihnen manchmal einen Stapel Bücher, die hinter dem Ladentisch verpackt worden waren und große Weltliteratur enthielten.
Die Menschen waren überhaupt sehr an Hochkultur und Kunst interessierte, was natürlich damit zusammenhing, daß unser Freizeitbereich in anderer Weise sehr begrenzt war. Erstens konnten die Leute nicht reisen. Viele Künstler konnten reisen, so auch ich als Künstlerin, nicht als Privatperson. Heute wird behauptet, daß keiner reisen durfte, was so nicht stimmt. Ansonsten jedoch gab es großes Interesse an politischen Fragen, an intellektuellen Fragen. 1988 habe ich eine Ingeborg Bachmann/Erich Fried-Collage gemacht zusammen mit drei Jazzern. Da fragten mich die Leute in Nürnberg: Wovon leben Sie denn? Ich antwortete: Ihr habt doch das Konzert gehört. – Was, und von so etwas kann man leben? – Natürlich, wir konnten alle, und zwar gut, davon leben. Ich meine, da ich immer politische Kunst gemacht habe, bin ich auch im Osten nicht reich geworden, das muß man auch sagen. Ich habe mich nie nach dem Mainstream gerichtet und bin deshalb ab einer gewissen Zeit, als ich die Gruppe Jahrgang 49 verlassen habe, nicht mehr ins Fernsehen gekommen. Mein erstes Soloprogramm galt als feministisch, und das war sehr unpassend. Und alles, was ich dann gemacht habe, wurde auch icht übertragen. Aber es hat natürlich Kollegen und Kolleginnen gegeben, die sind sehr wohl in den Rundfunk gekommen, weil sie angepaßter waren als ich.
SB: Es gab also einen Unterschied im Einkommen zwischen Amiga-Stars und anderen Künstlern?
GP: Selbstverständlich.
Frauke Pietsch: Trotz Festgage.
GP: Das ist ja klar. Ich besitze kein Haus.
FP: Nicht mal eine Gartenlaube (lacht).
GP: Viele Schlagersänger haben natürlich mehrere Häuser und sind dann im nachhinein auch noch Widerstandskämpfer gewesen, worüber ich mich totlachen könnte.
SB: Müßte man von dem Anspruch eines sozialistischen Staates her nicht vermuten, daß das politische Lied dem Schlager zumindest gleichgestellt wäre?
GP: Naja, ich bin seit 1972 Profi, hatte die sogenannte Profi-Pappe, und da waren wir insofern gleichgestellt, als wir alle Einstufungen hatten. Ich hatte eine sehr hohe Einstufung, eine C, darüber gab es nur noch S für besondere Künstler wie etwa Theo Adam oder Gisela May. Ich habe eigentlich auch nicht weniger bekommen pro Konzert, aber natürlich haben solche Künstler sehr viel mehr Konzerte gehabt und wurden auch öfter für besondere Veranstaltungen und Produktionen gebucht, wo immer noch etwas dazukam.
FP: Und sie verkauften Platten.
SB: Gab es dafür Tantiemen?
GP: Wenn sie es komponiert hatten, dann schon.
Gina und Frauke Pietsch im Gespräch
Foto: © 2013 by Schattenblick
SB: Frauke, du hast 1989 in der DDR Abitur gemacht, bist also sozusagen noch DDR- sozialisiert. Würdest du im Vergleich zu deiner Wahrnehmung, die du damals von den Aktivitäten deiner Mutter hattest, sagen, daß es heute bessere Voraussetzungen für anspruchsvolle Künstlerinnen in der Bundesrepublik gibt?
FP: Ich möchte mit einem klaren Nein antworten. Das zentrale Problem besteht darin, daß heute alles privat finanziert werden muß. Das wenige, was es noch an staatlicher Förderung gibt, geht immer weiter zurück und ist nicht so zuverlässig, daß man darauf eine wirkliche Kultur aufbauen kann. Von Künstlern wie Daniel Barenboim einmal abgesehen, für die es aus politischen Gründen einen so großen Bedarf gibt, daß sie keine Sorgen haben, wenn sie große Kunst machen. An anderen Stellen sieht das ganz anders aus. Und das politische Lied wird definitiv nicht gefördert von staatlicher Seite, so daß es in irgendeiner Form privat finanziert werden muß, und sei es über Vereine, die sich zum Ziel setzen, aufgrund ihrer Mitgliedsbeiträge oder auch einer Spende ein kleines, aber immerhin vorhandenes Honorar zu zahlen.
Zuguterletzt für die Tür spielen zu müssen kann nicht zu einem tragfähigen, lebensfähigen Honorar führen. Wenn 70 Leute kommen und vielleicht zehn Euro zahlen, dann hast du im günstigsten Fall ein Einkommen für zwei Menschen brutto von 350, und das ist eine extrem günstige Variante. Davon kann kein selbständiger Mensch leben, das würde jeder Meister eines Autobetriebs sofort unterschreiben, das geht nicht. Die Situation ist aber so. Also braucht es unfaßbar viel Enthusiasmus und eines dringenden Bedürfnisses, diesen Beruf auszuüben. Ansonsten ist es unmöglich.
GP: Das betrifft ja auch die Kunstpädagogik. Ich bin seit dem Fall der Mauer für 20 Jahre Dozentin an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch gewesen, also DER Hochschule in diesem Fach in allen deutschsprachigen Ländern. Jetzt bin ich an der Filmhochschule Babelsberg, da gibt es einen Stundenlohn für 60 Minuten, und das ist der höchste Satz für einen Hochschulprofessor, von 29 Euro. Darüber lacht sich jeder Klempner tot. Aber ich habe drei Hochschulen besucht. Da fängt die Ungerechtigkeit schon an.
FP: Du hast drei Hochschulabschlüsse und an mehreren Hochschulen über Jahre Unterricht gegeben, und das für dieses Honorar.
GP: Das ist an allen staatlichen Hochschulen, jedenfalls in Berlin, so, ob Babelsberg, ob UDK (Universität der Künste), ob Busch, ob Eisler. Alle, die wir dort unterrichten, sind Hochprofis und haben viele Jahre
auf der Bühne gestanden. Ich bin sehr stolz darauf, nach dem Fall der
Mauer immer von meiner Kunst gelebt zu haben, allerdings nur in der
Kombination von eigener Kunst und Kunstpädagogik. Wenn man so etwas nicht hat, wie es häufig in der Bildenden Kunst der Fall ist, dann geht es überhaupt nicht.
Vielfältige Bühnenpräsenz
Foto: © 2013 by Schattenblick
SB: Könntest du etwas über den “grünen” Brecht sagen, der natürlich im weitesten Sinne unbekannt ist?
GP: Das mache ich gerne, den hätte ich auch gerne hier gespielt. Vielleicht klappt es ja das nächste Mal. Das ist glaube ich mein 16. oder 17. Brecht-Abend. Das Kulturamt in Steglitz hat eine kuriose Ausschreibung gemacht, die da hieß, “Wir suchen Kunst zum Thema Natur unter der Überschrift ‘Over the rainbow'”, wozu ich den Zuschlag bekommen habe, weil ich mich schon einmal in den 90er Jahren mit dem Thema beschäftigt hatte. Dem ging eine große Recherchearbeit voraus. Bei Brecht denkt man ja an das Klischee der roten Socke, die doch kein Verhältnis zur Natur haben kann. Wenn ich einen neuen Abend mache, lese ich in der Regel das Gesamtwerk noch einmal, was bei Bertolt Brecht nicht gerade klein ist. Ich habe 500 Nummern gefunden, die sich mit dem Thema Natur beschäftigen. Dieses Thema zieht sich durch das Werk des 16jährigen bis zum 56jährigen Brecht in den Buckower Elegien hindurch. Es ist also ein biographischer Abend, an dem ich Brechts Leben anhand seines Verhältnisses zur Natur nacherzähle. Er heißt “… zum Beispiel das Gras” mit dem Untertitel “der ‘grüne’ Brecht – in Gesprächen über Bäume, Bäche und Buckow, in Gesängen über Geier, Gummi und Gänse”. Den wollen die Leute nicht so oft aufgeführt sehen, weil es so speziell klingt. Sie wollen lieber Best-of-BB hören, wo Surabaya-Johnny und Seeräuber-Jenny und so weiter gesungen wird, was jeder macht, was ich aber dennoch anders mache.
FP: Das ist ein sehr anspruchsvoller als auch kulinarischer Abend, der von viel mehr Menschen genossen werden müßte. Und es gäbe viele, die ihn genießen könnten und wahrscheinlich auch wollten, wenn sie nur wüßten, daß es ihn gibt. Man müßte erwarten, daß ihn die grüne Parteispitze einmal gesehen hat.
GP: Die hatten wir eingeladen, aber es ist niemand gekommen, was mich sehr gegrämt hat.
SB: Vielleicht haben die Grünen ja ein anderes Problem mit Brecht. Ihr habt heute auch etwas von Tori Amos gespielt. Frauke, hast du eine besondere Beziehung zu dieser Sängerin und Komponistin oder überhaupt zur amerikanischen SingerSongwriter-Kultur?
FP: Ein herzliches, aber nicht besonders spezifisches. Ich bin in meinem Musikgeschmack eher ungewöhnlich breit, vielleicht schon beunruhigend breit gestreut, habe aber trotzdem eine Leidenschaft durchaus auch für Tori Amos, weil sie einfach eine großartige Künstlerin und Musikerin ist. Es ist wirklich phänomenal zu beobachten und zu hören, was sie dichten, dann aber wirklich kompliziert und trotzdem einfach klingend komponieren und dann auch noch alles selber spielen kann. Das ist wirklich grandios, was die Frau auf der Bühne zaubert. Alle drei Jahre bringt sie eine neue, großartige und sehr spezielle und trotzdem irgendwie auch für den Mainstream hörbare Platte heraus, die sich einem erst, wenn man vielfach zuhört und möglicherweise die Noten studiert, erschließt. Das ist wirklich komplizierter, schwer zu spielender Stoff, der bei ihr leicht klingt.
SB: Warum hast du Lakota Studies am Oglala Lakota College in den USA studiert?
FP: Das hängt mit meiner DDR-Sozialisation zusammen. Das Stichwort ist dann nicht wie im Westen Karl May, sondern mehr Liselotte Welskopf-Henrich als die wichtigste Autorin, die in der Tat über die Lakota recht ausführlich geschrieben hat. Es geht immer noch das Gerücht, sie sei Stammesmitglied geworden. Das weiß man bei den Lakota nicht, oder nicht mehr. Ich bin unter anderem deswegen dahingegangen und habe ein Semester an dem Tribal College in Pine Ridge studiert und an anderen Orten der Pine-Ridge-Reservation Kurse belegt, was ich nur weiterempfehlen kann. Es war eine sehr wichtige und spannende Zeit, wenn es auch eine sehr spezifische Erfahrung wie auch deutsche Konstellation ist, was die durchaus von Karl May geprägte Leidenschaft des Deutschen am Indianer im allgemeinen und besonderen widerspiegelt.
SB: Hast du eine starke Diskrepanz entdecken müssen zwischen dem, was das hierzulande favorisierte Indianerbild betrifft und dem, was du dort an Lebensrealität vorgefunden hast?
FP: Nein, eben nicht, weil ich nicht von Karl May geprägt bin, von da wäre ein Widerspruch zu erwarten gewesen. Bei Welskopf-Henrich ist es anders, sie beschreibt sehr genau und in enorm vielen Details, so daß ich gar nicht überrascht war, als ich aus dem Flieger trat. Genauso hatte ich es mir vorgestellt, mit all dem Elend. Wenn eine Überraschung auftrat, dann erst Jahre später, als ich mir erhofft hatte, es müßte sich in der Zwischenzeit etwas gebessert haben. Ich kam Jahre später wieder hin und stellte fest, es hatte sich gar nichts verbessert, was andererseits zu erwarten gewesen war, weil sich ja seit weit über 150 Jahren an dem Grundelend nichts getan hat, selbst wenn da jetzt Häuser stehen, finanziert von der amerikanischen Regierung aus Steuermitteln. Zwar werden Wohlfahrtsgelder irgendwie gezahlt und dergleichen Dinge mehr, die Lakota werden von Besatzerseite durchaus am Leben erhalten, aber ein wirkliches Leben mit eigener Kultur ist nicht möglich. Wenn überhaupt, dann nur unter Umkehrung der Verhältnisse, indem man eine neue Identität, die sich durchaus von dem, was sie als ihr Idealbild betrachten, nämlich das des prärieindianischen, büffeljagenden Kriegers, unterscheiden muß, und eine panindianische, eher spirituell geprägte und irgendwie die Alltagszwänge akzeptieren müssende Haltung verlangt.
SB: Gina, du sagtest bei eurem Auftritt, daß du dir früher nicht vorstellen konntest, einmal Hildegard Knef zu singen. Wie bist du zu dieser Auffassung gekommen?
GP: Ich glaube mittlerweile, daß ich ein etwas negativ besetztes Klischee in mir getragen habe, was mit ihrer Autobiografie “Der geschenkte Gaul” zusammenhängt und ihre Eitelkeit betrifft. Das war lange Zeit prägend für mich, ich kannte allerdings auch nur ganz wenige Lieder wie “Für mich soll’s rote Rosen regnen”, was ich nicht als ihr bestes Lied betrachte. Mittlerweile habe ich eigentlich mehr durch meine Chanson-Kurse, die ich zum Beispiel an der Volkshochschule in Neukölln in Westberlin gebe, wo gerne und viel Hildegard Knef gesungen wird, innerlich ein bißchen ihr Abbitte geleistet. Für schlecht habe ich sie nie gehalten, aber sie gehörte nicht zum meinen Favoriten. Das hängt auch ein bißchen damit zusammen, daß ich eher eine Degenhardt-Freundschaft habe und eine andere politische Sicht hatte. Dabei will ich ihr eine politische Sicht nicht absprechen, aber es war bis dato alles andere als eine Liebe. Und dieses Lied “Doch hör nicht auf mich”, das ich zuerst mit einer Schülerin erarbeitet habe, ist für dieses Programm in jeder Weise stimmig, so daß es nun diesen Titel hat.
SB: Du hast heute beim Programmpunkt “Die Klavierspielerin” von Elfriede Jelinek ein Beispiel deines schauspielerischen Könnens gegeben. Ist die Fähigkeit, sich stark in bestimmte Rollen hineinzuversetzen, für dich ein Bestandteil der Gesangskunst?
GP: Ich bin auch ausgebildete Schauspielerin. Ich habe sowohl das eine als auch das andere gelernt und denke, daß es ein bißchen zu meiner Spezialstrecke gehört, das zu vermischen oder zusammenzubringen, daß hier eine Schauspielerin singt oder eine Sängerin schauspielert. Ich finde es am besten, wenn das eine Symbiose ergibt. Wenn für mich gute Gedichte zum Thema gehören, dann spreche ich auch einmal ein Gedicht. Bei Elfriede Jelinek ist es ja nur ein großer Text, und das ist für mich kein Widerspruch. Ich habe eigentlich beinahe in allen Abenden entweder Gedichte oder Geschichten im Programm. Bei Bertolt Brecht erzähle ich Geschichten, und dadurch, daß ich mir die Bücher selbst schreibe, schreibe ich auch die Moderationen – heute könnte man Entertainment dazu sagen.
FP: Ich würde sagen, das gehört notwendig zu deinem Interpretationsansatz, jeweils in die gesamten Fasern der Bedeutung sowohl musikalisch, aber eben ganz besonders auch textlich einzudringen und möglicherweise eine Rolle zu finden, die dem zugrunde liegt und diese dann musikalisch zum Ausdruck zu bringen. Das genau macht deinen Interpretationsstil speziell und einzigartig, aber ich finde notwendig.
SB: Wo sind die Männer bei eurem Programm Mütter-Töchter-Lieder geblieben? Sicherlich bezieht ihr euch, ob als Konkurrentinnen oder in dem vereinten Versuch, dem Patriarchalischen zu widerstehen, auch auf sie.
GP: So wird zum Beispiel etwas darüber gesagt, daß die Erziehung der Frau historisch schon durch Jean-Jacques Rousseau in “Emile oder über die Erziehung” geprägt war. Immer in Richtung auf den Mann natürlich. So etwas war heute nicht dabei, weil das Programm kürzer als normalerweise gewesen ist. Das wird angesprochen, aber es spielt keine so große Rolle.
FP: Nicht die entscheidende, weil das, was den Abend heraushebt, unser Versuch ist, uns mit dem Mütter-Töchter-Verhältnis zu beschäftigen. Es gibt durchaus Lieder, und zwar mehr, zu Vätern und Söhnen, zu Vätern und Töchtern und auch zu Müttern und Söhnen. Aus unserer Recherche, die natürlich keine statistische Erhebung darstellt, ging hervor, daß es für diese Konstellation besonders wenig Material gibt.
GP: Was historisch bedingt ist. Die Geschichte haben in der Regel die Männer gemacht, oder sie wurde für oder durch Männer geschrieben. Die Männer sind in die Kriege gezogen, die Frauen haben gebangt um sie als Mutter, als Ehefrau oder Tochter. Insofern findet man geradezu ein Übermaß an Mütter-Söhne-Liedern. Ein solches Programm hätte ich in einer halben Stunde zusammengestellt, das wäre kein Problem gewesen. Am Anfang waren wir uns nicht sicher, ob es uns überhaupt gelingt, ein Programm zum Mutter-Tochter-Verhältnis zu erstellen.
SB: Wie seht ihr als in der DDR sozialisierte Frauen die heutige Lage der Frau in der Bundesrepublik? Hat sich die Situation für euch subjektiv verbessert, oder habt ihr Abstriche machen müssen?
GP: Ich habe mich seit vielen Jahren mit dem Frauenthema beschäftigt und ich bin die erste in der DDR gewesen, die 1984 ein Soloprogramm zu Thema Feminismus gemacht hat. Grundsätzlich war in der DDR die Gleichberechtigung hergestellt, gleicher Lohn für gleiche Arbeit und so weiter. Was wir damals schon nicht erreicht haben, war Frauen auf Führungsebenen zu positionieren. Da wurde noch nicht wie heute von einer Quote gesprochen, aber die Lage hat sich nicht besonders verändert. Das ist immer noch ein Thema. Was ich wirklich als einen Rückschritt betrachte, ist die Frage der Entlohnung. Es ist nachweisbar, daß Frauen immer noch schlechter entlohnt werden. Dieser Rückschritt ist natürlich besonders prekär, weil es die Frauenbewegung, zu der ich mich immer zugehörig empfunden habe, eigentlich nicht mehr gibt.
Natürlich gibt es immer noch irgendwo Grüppchen, und es gibt immer noch Frauen, die zum 8. März auf die Straße gehen. Ich habe mehrere Programme zu diesem Thema und werde dann immer besonders eingesetzt. Da versammelt sich dann ein kleiner Kreis von frauenbewegten Frauen, und ich freue mich immer, wenn auch Männer dabei sind. Die Normalität ist jedoch, daß Frauen bei wachsender Arbeitslosigkeit die ersten sind, die rausgeschmissen werden. Der Zusammenhang zur Wirtschaft liegt auf der Hand. Das ist eine Entwicklung, die ich für bedenklich halte.
FG: Ich schließe mich dem weitgehend an und kann nur unterschreiben, was in jedem ein bißchen marxistisch geprägten Artikel zu lesen ist, daß sich die Gesellschaft mit der Individualisierung der notwendigen Arbeit letztlich zugrunde richten wird. Ich bin ein Beispiel dafür – intellektuell hochgebildet, muß ich mich selber über Wasser halten, was ich mit meiner Arbeit auch tue. Ich kann aber keine Familie davon ernähren. Das würde ich sehr gerne tun, das ist aber nicht möglich. Das ist ein deutliches Symbol für eine klare Entwicklung in dieser Gesellschaft.
SB: Gina und Frauke, vielen Dank für das lange Gespräch.
Baybachtal in der Nähe der Burg Waldeck
Foto: © 2013 by Schattenblick
Fußnoten:
Informationen über Gina Pietsch siehe
http://www.ginapietsch.de/index.html
Bisherige Beiträge zum Linken Liedersommer auf Burg Waldeck im Schattenblick unter INFOPOOL ? MUSIK ? REPORT:
BERICHT/013: Eine Burg und linke Lieder – wie alles kam (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0013.html
BERICHT/014: Eine Burg und linke Lieder – Soziales nach Noten (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0014.html
BERICHT/015: Eine Burg und linke Lieder – Die Kunst zu treffen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0015.html
INTERVIEW/019: Eine Burg und linke Lieder – Nieder und Lagen und Blicke voran, Kai Degenhardt im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0019.html
INTERVIEW/020: Eine Burg und linke Lieder – Zeitenwenden, Brückenköpfe, Dr. Seltsam und Detlev K. im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0020.html
INTERVIEW/021: Eine Burg und linke Lieder – Nicht weichen, sondern Analyse, Klaus Hartmann im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0021.html
1. August 2013