Eine Burg und linke Lieder – Genius verkannt, Uli Holzhausen und Matthias Leßmeister im Gespräch
Großer deutscher Lyriker Franz Josef Degenhardt
Interview am 22. Juni 2013 auf Burg Waldeck
Uli Holzhausen wurde in den 60er Jahren von den legendären Festivals auf der Burg Waldeck im Hunsrück politisch und musikalisch wesentlich beeinflußt. Zuerst mit internationalen Folksongs und später zunehmend mit deutschsprachigen Liedern gab er regelmäßig Konzerte. Er gründete den Mainzer Folksinging Club, in dem viele Folk-Konzerte stattfanden. Aus dieser Erfahrung heraus veranstaltete er ab 1972 die ersten Ingelheimer Folkfestivals. Drei Jahre später war er Mitbegründer des “Open Ohr Festivals” in Mainz, dem einzigen noch immer stattfindenden politischen Jugendfestival in der Bundesrepublik. In dieser Zeit trat er als Veranstalter auf und stand nicht selbst als Künstler auf der Bühne. Ab 1992 konzentrierte er sich auf Konzerte mit jiddischen Liedern und der Klezmermusik zusammen mit Matthias Leßmeister am Akkordeon und seit fast zehn Jahren auch mit Sonja Gottlieb. Seit dem Jahr 2005 haben Uli Holzhausen und Matthias Leßmeister ein Soloprogramm ausschließlich mit Liedern von Franz Josef Degenhardt erarbeitet, mit dem sie seither auftreten.
Uli Holzhausen und Matthias Leßmeister
Foto: © 2013 by Schattenblick
Beim 5. Linken Liedersommer, der vom 21. bis 23. Juni auf Burg Waldeck stattfand, trugen Uli Holzhausen und Matthias Leßmeister im Workshop “Franz Josef Degenhardt” Auszüge aus ihrem Repertoire vor. Im Anschluß daran beantworteten sie dem Schattenblick einige Fragen.
Schattenblick: Ihr habt zuvor gemeinsam Klezmer-Musik gespielt. Wie kam es dazu, daß ihr ein Programm mit Liedern Franz Josef Degenhardts präsentiert?
Uli Holzhausen: Ich bin schon zwischen 1964 und 1969 auf den Waldeck-Festivals gewesen und habe da natürlich auch die Chansons von Franz Josef Degenhardt kennengelernt. Abgesehen davon hatten wir in Mainz, wo ich aufgewachsen bin, in unserem Bekanntenkreis gleich die erste LP von ihm, dann die zweite, dritte und so weiter. Da ich damals als einziger aus unserem Kreis Gitarre spielte, oblag es mir dann auch, die Chansons von Degenhardt zu spielen. Und aus diesen Anfängen entwickelte sich dann eine Kontinuität. Die Chansons von Degenhardt haben mich mein Leben lang inhaltlich begleitet, auch weil sie zeitlos sind. Viele seiner Lieder aus den 60er, 70er Jahren sind heute noch aktuell. Als wir davon Kenntnis bekommen hatten, daß er nur noch selten auftritt, und ich von dem Eulenspiegel-Verlag eine komplette Sammlung mit über 500 veröffentlichen Liedern erstanden hatte, dachte ich, das ist eigentlich viel zu wichtig, als daß ich da nicht auch daran teilhabe. So versuchen wir mit unseren Möglichkeiten – Matthias mit dem Akkordeon und ich mit Gesang und Gitarre – diese Lieder am Leben zu halten, weil es ein ganz wichtiges Liedgut in unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft ist und auch bleiben wird. Deswegen haben wir uns zusammengesetzt und ein Soloprogramm mit den Chansons von Degenhardt erarbeitet, mit dem wir seit sechs, sieben Jahren Konzerte geben.
SB: Du hast vorhin im Workshop gesagt, daß Franz Josef Degenhardt deines Erachtens einer der größten deutschen Lyriker war. Glaubst du, daß das angemessen gewürdigt wird?
UH: Wenn man das Gros sieht, nicht, beziehungsweise noch nicht. Ich bin jedoch überzeugt, daß seine Lyrik auch in die Schulbücher Einzug halten wird, weil sie ein Zeitdokument und politisch wichtig und richtig ist, was sich immer wieder herausgestellt hat. Hinzu kommt die absolut deutliche Sprache und klare Aussage in seinen Texten, sei es in den Romanen oder natürlich auch in seinen Liedern. Diese höchste Qualität zeichnet ihn aus, genau die Situation oder das, was er anprangern will, auf den Punkt zu bringen. Und da ist er momentan einzigartig – andere Liedermacher sind gut, aber Degenhardt ist einmalig, er sticht hervor, er ist ein Solitär.
SB: Nach einem der Lieder, die ihr vorgetragen habt, sagte eine Zuhörerin, sie habe das darin beschriebene Bild buchstäblich vor Augen gehabt. Degenhardt hat es offensichtlich verstanden, mit seinen Texten ganze Szenarien wie auch lebensgeschichtliche Stimmungen prägnant einzufangen.
UH: Ja, das geht uns genauso, weil es eine sehr klare Sprache ist, mit der er diese Liedtexte formuliert hat. Es entstehen einprägsame Bilder, weil nichts nebulös bleibt, sondern alles klar wie ein Herbsttag wird.
SB: Er hat andererseits, wie etwa in dem Lied “Wölfe mitten im Mai”, auch sehr düstere, poetische Geschichten erzählt, in denen geheimnisvolle Dinge anklingen, von denen die Leute lieber nichts wissen wollen.
UH: “Wölfe mitten im Mai” gehört zu jenen seiner Lieder, von denen er einer Quelle zufolge gesagt hat, es seien Geschichten, in die sich jeder selbst einhören und seine eigenen Bilder entwickeln soll. In der
damaligen Zeit hat er das durchaus manchmal gemacht, während sich das später radikal geändert und er solche mysteriösen Geschichten nicht mehr geschrieben, sondern sehr klare Vorgaben gemacht hat.
SB: Lieder von Degenhardt zu spielen, ist sicher eine große Herausforderung, weil euch die Zuhörer wahrscheinlich an ihm messen werden. Ihr habt eure eigene Interpretation entwickelt und mit einer ungewöhnlichen Instrumentierung umgesetzt. Wie reagiert das Publikum auf eure Art und Weise, Degenhardt zu präsentieren?
UH: Wir haben erst einmal lange darüber diskutiert, welche Methoden und Formen wir wählen wollen. Dabei war uns von Anfang an ganz klar, daß wir nie versuchen, Degenhardt zu kopieren. Erstens ginge das gar nicht, und selbst wenn es möglich wäre, hätte Degenhardt seine eigene Vortragsweise, und wir hätten unsere. Wenn man als Nachsänger authentisch sein will, muß man seine eigene Form entwickeln. Wir befinden uns in einem Prozeß und sind meines Erachtens auf einem guten Weg zu einer reifen Form der Präsentation von Degenhardt-Liedern mit unseren eigenen Möglichkeiten. Wenn mich Matthias Leßmeister mit dem Akkordeon wunderbar einfühlsam, prägnant und manchmal auch herausfordernd unterstützt, entfaltet sich eine ganz neue musikalische Stimmung und Wirkung. Würde ich Degenhardt “nur” mit der Gitarre spielen und dazu singen, hätte das einen anderen Charakter. Daher ist das Akkordeonspiel eine großartige und ideale Ergänzung.
Hochkonzentriert im Zusammenspiel
Foto: © 2013 by Schattenblick
Matthias Leßmeister: Wie sich vorhin wieder einmal gezeigt hat, werden die instrumentalen Zwischenstücke in der Regel sehr dankbar angenommen. Man kann einfach zuhören, ohne darüber nachdenken zu müssen, und geht danach wieder frischer in den Prozeß hinein, Lieder intensiver anzuhören. Wir haben dazu sehr positive Rückmeldungen bekommen und manchmal sogar gehört, wir hätten ruhig noch das eine oder andere Instrumentalstück mehr vortragen können, weil die Lieder mit den Texten Degenhardts so dicht sind. Mit den Zwischenstücken setzen wir also teilweise Anregungen aus dem Publikum um.
SB: Man braucht demnach zwischendurch im positiven Sinn eine Erholungspause, weil die Texte Degenhardts durchaus eine Anforderung darstellen. So kann man ein wenig entspannen, ohne gleich abzuschalten, und holt neuen Schwung für die folgenden Lieder.
ML: Richtig. Man läßt sich zwischendurch auf etwas anderes ein, das
kognitiv nicht so anspruchsvoll ist, sondern rein emotional. Das ist eine ganz andere Ebene, die immer sehr gut ankommt. Wir spielen meist französische Musik, vielleicht eine Musette. Vorhin hat jemand gefragt, ob das Stück auch von Degenhardt sei. Das war es natürlich nicht, aber wiederum auch nicht so weit weg davon, weil Degenhardt ja auch eine gewisse Affinität zu Frankreich hatte. Das war der Grund, warum ich gerade dieses Stück ausgewählt habe.
SB: Das Akkordeonspiel ist ein sehr dynamisches Moment, das die Zuhörerinnen und Zuhörer buchstäblich in Bewegung bringt und in Abstimmung mit der Gitarre die Klangfülle ergänzt und erweitert.
ML: Das Akkordeon macht den Vortrag für das Publikum noch ansprechender. Es darf aber nichts ersetzen oder überdecken, und das ist die eigentliche Herausforderung. Ich muß mich so weit zurücknehmen, daß der Text immer im Vordergrund steht, nicht überlagert wird und gut zu verstehen ist. Bloße Lautstärke oder spielerische Extravaganz haben da nichts verloren. Deshalb haben wir auch für einige Lieder, die Uli als Solist ausgezeichnet vortragen kann, noch keine gemeinsame Basis gefunden. Aber das gelingt uns ja vielleicht noch, denn wir arbeiten laufend daran und befinden uns in einem Prozeß der Weiterentwicklung.
SB: Wenn sich der Akkordeonspieler, wie du gesagt hast, eher im Hintergrund hält, ist es womöglich im Zusammenspiel gerade seine hohe Kunst, sich nicht wie ein Solist in den Vordergrund zu spielen?
ML: Das ist nicht selten schwieriger, als im Vordergrund zu spielen. Ich muß mich sehr auf Uli konzentrieren, weil die Texte Degenhardts nicht wie manche schöne Volkslieder eine Strophe nach der anderen heruntergespielt werden können. Was haben wir teilweise für Mühe gehabt, bei Liedern wie “Vorstadtfeierabend” eine einigermaßen gute Abstimmung von Stimme und Akkordeon zu erarbeiten! Degenhardt hat das ja im positiven Sinne so gespielt, wie er wollte, was ich klasse finde. Uli macht das auf seine eigene Weise genauso. Für mich ist das zwar spielerisch keine Riesenanforderung, aber was die Konzentration betrifft, muß ich mich zu 100 Prozent auf ihn einstellen, und es gelingt auch – sagen wir mal zu 99 Prozent. Auch wenn es das Publikum nicht merkt, ist das die eigentliche Herausforderung. Und obwohl ich natürlich auch gerne solistisch spiele, ist diese ganz andere Problemstellung für mich als Akkordeonspieler so etwas wie eine eigene Welt und auch für sich genommen sehr schön.
SB: Ihr habt im Workshop erzählt, bei welchen verschiedenen Gelegenheiten ihr aufgetreten seid. Wer lädt euch ein und wie hat sich die Resonanz beim Publikum im Laufe der Jahre entwickelt?
UH: Wir spielen unter anderem in Klubs, in denen auch Folksänger und Liedermacher auftreten. Eingeladen werden wir beispielsweise von Organisatoren, die sich inhaltlich entweder mit der Zeit, in der Degenhardt seine Lieder gespielt hat, oder mit einem seiner Themen wie Krieg, Armut, Ungerechtigkeit und Unterdrückung befassen. Wir werden auch zu Konzerten eingeladen oder spielen natürlich bei bestimmten Aktionen wie etwa den Ostermärschen. Seit Degenhardt nicht mehr lebt, hat die Nachfrage zwar etwas nachgelassen, aber wir haben bei unseren Konzerten immer noch ein Publikum zwischen 70 und 160 Personen, was für diesen Bereich nicht wenig ist. Ich hatte ja vorhin von einem Auftritt in einer kleinen Ortsgemeinde von 500 Einwohnern erzählt, von denen 120 zu unserem Konzert gekommen sind. Das ist enorm viel, und wenn dann noch der Funken überspringt, freuen wir uns natürlich. Neulich haben in einem kleinen Hunsrück-Dorf ganz junge Leute begeistert gefragt, wer denn dieser Degenhardt eigentlich ist und ob man noch mehr von ihm hören oder etwas über ihn lesen kann. Genau das wollen wir erreichen und da bleiben wir auch dran.
SB: Hast du den Eindruck, daß eine jüngere Generation dabei ist, Degenhardt neu zu entdecken und die Auseinandersetzung, die er geführt hat, wieder aufzugreifen?
UH: Degenhardt ist politisch, und man wird ihn nur dann goutieren, interpretieren und hören wollen, wenn man selber auf die eine oder andere Weise politisch engagiert ist. Ich würde sagen, das ist eines der Kriterien, nicht ob man jung oder alt ist. Wenn junge Leute politisch interessiert sind, sei es in evangelischen oder katholischen Gemeinden, sei es in Initiativen oder Parteien, dann besteht auch ein Interesse an Degenhardt, sie setzen ihn ein und verwenden seine Texte. Wenn man pauschal von jungen Leuten spricht, ist es wie in anderen Kunstformen schwierig. Degenhardt hat in seinen Glanzzeiten, als oftmals mehr als 1.000 Leute seine Konzerte hörten, eine Jugend angezogen, die anders war als die heutige. Gerade in der Zeit nach 1969, als beispielsweise hier in unserer Region die Kämpfe um selbstverwaltete Jugendzentren einsetzten, war die Jugend in einem Maße politisiert, wie es das heute kaum noch gibt.
Hinzu kommen natürlich auch die veränderten Musikformen, die dazu führen, daß man traditioneller Richtungen überdrüssig wird. Das gilt auch für unsere Klezmer-Musik und die jiddischen Lieder, die meines Erachtens in der Bundesrepublik ihren Zenit überschritten haben. Inzwischen gibt es viele Klezmer-Musiker, die auch Rap machen oder ganz neue Jazzformen entwickelt haben, um sich musikalisch weiterzuentwickeln. Wenn man zehn Jahre tourt und immer nur die ganz traditionellen Klezmer-Stücke spielt, wird das irgendwann tödlich langweilig. Was aber Degenhardt betrifft, so ist er einfach Zeitgeschichte, und seine Romane wie auch die 500, 600 Lieder, die er veröffentlicht hat, stellen ein Werk dar, das bestehen bleibt.
SB: Du hast im Workshop erzählt, daß ihr auch von Sozialdemokraten eingeladen werdet, obgleich Degenhardt die SPD in seinen Liedern scharf kritisiert hat. Wie erklärst du dir diesen Widerspruch?
UH: Es gibt auch unter den Sozialdemokraten sehr viele kritische Mitglieder – die gab es und die gibt es, und davon lebt diese Partei noch immer. Und diese aktiven Menschen laden uns halt auch ein. Ich hatte erwähnt, daß wir neulich die Eröffnung einer Ausstellung zum Thema “150 Jahre Sozialdemokratie” musikalisch begleitet haben. Dafür hat man ausdrücklich Degenhardt-Stücke gewünscht, da es Sozialdemokraten gibt, die mit Degenhardt kein Problem haben. Daß er zeitweise selber Parteimitglied war und dann ausgeschlossen wurde, spielt jetzt keine Rolle mehr. Es sind die Inhalte, die er anspricht, und die auch auf sozialdemokratischem Boden entstanden sein könnten.
SB: Du hast vorhin aus einem bitterbösen Leserbrief zitiert, der sich gegen eure Aufführung von Degenhardt-Liedern richtete. Habt ihr häufiger solche Kritik zu hören bekommen oder sogar erlebt, daß eure Auftritte dadurch verhindert wurden?
UH: Nein, bisher überhaupt nicht.
ML: Dieser spezielle Leserbrief hat uns schon verwundert, weil in ihm eine Zeit anklang, deren Feindseligkeit gegen Degenhardt man sich heute kaum noch vorstellen kann. Eine Teilnehmerin im Workshop hat ja treffend gesagt, daß ihr die Wortwahl dieses Schreibens wie ein Rückfall in die 50er oder 60er Jahre vorkommt. Jeder kann seine Meinung sagen, aber dieses Beispiel war schon ziemlich merkwürdig. In der Regel ist aber die Rückmeldung, die wir bekommen, eher positiv. Was die SPD betrifft, so gehöre ich selber keiner Partei an und kann das eher von einem neutralen Standpunkt her sehen. Ich habe durch Uli viele Kontakte zur SPD bekommen und kann sagen, daß es auch dort viele kritische Menschen gibt, die gerne etwas ändern würden. Die Realpolitik macht es den Leuten jedoch sehr schwer. Das Bemühen ist da, doch die Realpolitik holt manchmal die schönen Ideen ein und macht sie kaputt. Gerade deshalb finde ich es gut, kritische Einwände vorzubringen. In unserer Region war beispielsweise die Kreisreform ein ganz heißes Eisen, und ich finde es wichtig, daß mehr Leute wahrnehmen, daß da noch etwas anderes vorstellbar ist. Sie nehmen das mit nach Hause, und vielleicht ändert sich dadurch ja sogar etwas.
Was Lieder verändern können …
Foto: © 2013 by Schattenblick
UH: Womit wir wieder bei der alten Frage wären, ob man mit Liedern etwas verändern kann. Diese Frage ist ja oft genug beantwortet worden: Man kann mit Liedern informieren, Denkanstöße geben, Solidarität stärken, eine Community schaffen – Lieder trösten und stärken, machen Mut und geben Kraft. Das Singen der Lieder ist Teil einer umfassenderen Aktion und kann als solcher etwas zu ihr beitragen. Aber Lieder allein werden nichts verändern, da wir ansonsten längst eine andere Welt hätten. Es gibt berühmte historische Beispiele wie das Ende der Militärjunta in Griechenland oder “Grândola, Vila Morena” bei der Nelkenrevolution in Portugal. Dort war dieses Lied das Signal zur Erhebung, aber Lieder allein funktionieren nicht.
SB: Könntet ihr euch vorstellen, daß junge Menschen zwar mit den traditionellen Musikformen und Liedern nichts mehr anzufangen wissen, aber neue Musikstile und Ausdrucksweisen hervorbringen, die ihr Lebensgefühl repräsentieren und darüber hinaus emanzipatorische Inhalte transportieren?
UH: Jede Musikform hat sich irgendwann herausgebildet und entspringt somit einer bestimmten Zeit und Situation. Anders geht es ja nicht. Das heißt, daß die Beatles, würden sie heute erstmals in Erscheinung treten, womöglich gar keinen Erfolg hätten und unbekannt blieben. Wollten junge Leute heute inhaltlich etwas Ähnliches ausdrücken wie Degenhardt, müßten sie das in ihrem eigenen Stil, in ihrer eigenen Form und mit ihrer eigenen Methode tun. In den 60er Jahren gab es beispielsweise den Blues, der auch sozialkritische Inhalte aufwies. Heute findet man kritische Äußerungen vor allem in manchen Raps, die Jugendliche ansprechen. Andererseits ist natürlich jede Menge Kommerz dabei. Und grundsätzlich muß man sagen, daß die jungen Menschen heute nicht so politisiert und aktiv sind, wie das in den 60er, 70er oder auch noch in den 80er Jahren der Fall war. Es ist schon sehr schwierig geworden.
SB: Damals konnte man vom Lebensgefühl her den Eindruck haben, daß der überwiegende Teil des eigenen Umfeldes aus fortschrittlichen Leuten besteht. Heute scheint sich das ins Gegenteil verkehrt zu haben.
UH: Ich glaube, es gibt noch Protest und Agitation, doch haben sich diese auf andere Flächen und an andere Orte verlagert. Heute findet eine Vielzahl der Diskussionen in Foren des Internets statt, wo Kontroversen geführt werden und man zu Aktionen aufruft. Dort ist die Jugend engagiert und macht auf den entsprechenden Plattformen ihre Arbeit.
SB: Musik wird heute in hohem Maße auf elektronischem Wege konsumiert. Welche Qualität haben demgegenüber eure Auftritte mit ihrem mehr oder minder persönlichen Kontakt zum Publikum?
UH: Livemusik ist unschlagbar, zumal wir keine vorgefertigten Ansagen haben, sondern der Stimmung Rechnung tragen und in Dialog mit dem Publikum treten. Natürlich folgt unser Programm einem roten Faden, doch wählen wir auch zwischendurch aus, was wir spielen wollen. So ist unsere Arbeitsweise.
SB: Ich würde euch gern abschließend fragen, welchen Eindruck ihr vom diesjährigen Linken Liedersommer hier auf Burg Waldeck habt.
UH: Ich bin ja in den prägenden Jahren meiner Jugendzeit hier gewesen, weshalb es für mich natürlich mit vielen Erinnerungen verbunden ist. Ich bin froh, daß es diese Veranstaltung gibt, die in der Tradition von Burg Waldeck und der ABW steht. Wir haben uns beide sehr gefreut, daß wir eingeladen wurden, weil es unserer Intention entspricht, die Werke Degenhardts am Leben zu halten, bekannt zu machen und immer wieder zu interpretieren. Ich finde diese Veranstaltung notwendig und wichtig – es könnten nur noch ein paar Leute mehr sein, als es ohnehin sind, aber dann wäre vielleicht der Workshop-Charakter weg. Vom Ansatz her entspricht es dem, was ich viele Jahre auf den Festivals in Ingelheim oder in Mainz auf dem “Open Ohr Festival” gemacht habe. Wir sind dort auch von einem bestimmten Thema oder manchmal auch mehreren Themen ausgegangen, haben Theaterproduktionen in Auftrag gegeben, Workshops geplant und dazu Referenten und Musiker eingeladen. Jetzt bin ich Akteur statt Manager oder Veranstalter, aber das ist im Grunde kein so großer Unterschied.
Uns gefällt es hier gut, aber auf einen kritischen Einwand möchte ich doch noch eingehen. Ein Teilnehmer hat vorhin im Workshop unsere künstlerische Präsentation gelobt, aber andererseits noch so ein paar richtige Politsongs von Degenhardt vermißt. Dem kann ich insofern zustimmen, als wir mit diesem Repertoire angefangen haben, zu dem sich noch andere Stücke gesellen werden, die sich recht deutlich von unserem aktuellen Programm unterscheiden. Wir arbeiten derzeit an einem neuen Konzept für ein Konzert, das nächstes Jahr fertig sein dürfte. Das enthält dann auch Lieder wie die “Ballade von Joß Fritz”, “Komm an den Tisch unter Pflaumenbäumen” und “Befragung eines Kriegsdienstverweigerers”. Das ist ja das Tolle, daß wir wahrscheinlich bis an unserer Lebensende nicht alle Degenhardt-Stücke arrangiert haben werden, weil es einfach zu viele und gute sind.
Wir haben für unser Programm eine bestimmte Auswahl getroffen, bei der wir natürlich das Publikum im Blick behalten, aber uns andererseits auch nicht anbiedern oder vorschreiben lassen, was wir zu spielen haben – weder hier, noch sonstwo, weil wir andernfalls nicht mehr wir selbst wären. Sollten wir deswegen nicht wieder eingeladen werden, könnten wir damit leben. Uns geht es jedoch nicht zuletzt darum, Menschen zu erreichen, die von Degenhardt kaum mehr als die “Schmuddelkinder” kennen. Wenn wir diese Leute ansprechen können, ist das auf jeden Fall positiv, da sie sich hinterher vielleicht weiter mit solchen Inhalten beschäftigen. Würden wir nur die harten und hochpolitischen Lieder Degenhardts spielen, liefen wir Gefahr, Leute zu verprellen und von vornherein nur für einen kleinen Kreis zu spielen. Ich würde sie selbstverständlich durchaus vortragen, wenn es die Situation erfordert. Grundsätzlich versuchen wir aber, eine etwas breitere Zuhörerschaft
anzusprechen.
SB: Uli und Matthias, ich bedanke mich für dieses Gespräch.
Träumend ruht die alte Waldeck
Foto: © 2013 by Schattenblick
Fußnoten:
Bisherige Beiträge zum Linken Liedersommer auf Burg Waldeck im Schattenblick unter INFOPOOL ? MUSIK ? REPORT:
BERICHT/013: Eine Burg und linke Lieder – wie alles kam (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0013.html
BERICHT/014: Eine Burg und linke Lieder – Soziales nach Noten (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0014.html
BERICHT/015: Eine Burg und linke Lieder – Die Kunst zu treffen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0015.html
INTERVIEW/019: Eine Burg und linke Lieder – Nieder und Lagen und Blicke voran, Kai Degenhardt im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0019.html
INTERVIEW/020: Eine Burg und linke Lieder – Zeitenwenden, Brückenköpfe, Dr. Seltsam und Detlev K. im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0020.html
INTERVIEW/021: Eine Burg und linke Lieder – Nicht weichen, sondern Analyse, Klaus Hartmann im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0021.html
INTERVIEW/022: Eine Burg und linke Lieder – Liederparadies im Schatten, Gina und Frauke Pietsch im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0022.html
2. August 2013