Eine Burg und linke Lieder – Soziales nach Noten
5. Linker Liedersommer auf Burg Waldeck vom 21. bis 23. Juni 2013
Auferstanden aus Ruinen …
Foto: © 2013 by Schattenblick
Der Linke Liedersommer auf Burg Waldeck greift die Tradition jenerlegendären Festivals der 1960er Jahre auf, die für den Höhenflug wie auch das Scheitern des politischen Liedes in Deutschland stehen. Nun schon zum fünften Mal machte sich ein kleiner, aber wachsender Kreis interessierter Menschen daran, im Rahmen des alle zwei Jahre stattfindenden Treffens im Hunsrück auf jene einander zugewandte und schöpferische Zusammenkunft zurückzukommen, die unwiederbringlich verloren schien. Vor der Entuferung, Spaltung und Kommerzialisierung dieser Liedkultur anzusetzen, mutet auf den ersten Blick wie ein nostalgisches Klammern an längst verflossene bessere Zeiten an, in die sich eine ältere Generation flüchtet. Wer dieser Gefahr ins Auge sieht, aber dennoch nicht einsehen will, daß mit den Niederlagen der Vergangenheit auch die Gründe zu kämpfen aus dem Feld geschlagen sind, kann allerdings zu anderen Schlüssen gelangen.
Was für die Linke insgesamt gilt, kann sich auch der Liedersommer ins
Stammbuch schreiben. Ohne die eigene Schwäche in Abrede zu stellen, ja gerade unter Verzicht auf das Diktat des Erfolges, ließe sich manches erschließen und bewerkstelligen, das noch nicht in konkurrenzgetriebener Zermürbung, konsumistischer Individuation und anpassungsbereiter Institutionalisierung verbraucht, verschleudert und vergessen ist. Wo man noch Worte schafft, einander zuhört, zusammen singt – kurz, aus dem Meer informationstechnologisch vernetzter Beliebigkeiten, dem Trommelfeuer sinnentleerter Beschallung und nicht zuletztdenkkontrollierender Begriffsverödung auftaucht, kann man frische Luft schöpfen. Der Linke Liedersommer ist nicht die Antwort auf das Dilemma, er könnte aber ein Ort sein, Fragen aufzuwerfen, Diskussionen zu entfachen und das vielgestaltige rebellische Lied manchmal unhörbar leise zu summen, manchmal aus voller Brust weiterzusingen. Die Frage, ob das viele andere hören, sollte dabei nicht an erster Stelle stehen, hieße das doch, der Veräußerung, Verwertung und Vermarktung den Zuschlag zu geben. Wäre es nicht zuallererst erstrebenswert, Worte zu sprechen und Lieder zu singen, die von dem Streit künden, der dem alten Leid in immer neuen Gewändern die Stirn bietet?
Und der Zukunft zugewandt … auch in der Abgeschiedenheit des Hunsrück
Foto: © 2013 by Schattenblick
Rund 130 Menschen, viele von weither angereist, erfreuten sich einer
Zusammenkunft auf Burg Waldeck, die gleichermaßen inspirierend und entlastend, anregend und erholsam war. Getragen vom Engagement des Organisationsteams, bei dem sich die Gäste in guten Händen wußten, griffen Stringenz des Programmablaufs und entspannte Atmosphäre reibungsarm ineinander. Was wären informative Arbeitsgruppen ohne den Raum zur Diskussion, die sich wiederum nicht in einen Stundenplan einhegen läßt? Wo bliebe man angesichts hochkarätiger musikalischer Darbietungen, wäre man als bloßer Konsument von eigener Beteiligung ausgeschlossen? Mit wem teilte man das Erlebte und Geschaffene, aber auch seine Einwände und Kritik nicht lieber als mit jenen, die an demselben Feuer gesessen haben? Vielleicht war die eigentliche Errungenschaft dieses Liedersommers etwas, das man wie selbstverständlich nahm, obwohl man es doch andernorts zumeist vergeblich sucht: Gemeinsame Anliegen, erweiterte Horizonte und solidarische Kritik samt großer Lust, miteinander ins Gespräch zu kommen – sei es davor, währenddessen oder hinterher.
Geistige Kost soll nicht zu kurz kommen
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Kulturseminar und Liederfest
Veranstaltet wurde der fünfte Linke Liedersommer auf Burg Waldeck von den Sektionen Rheinland-Pfalz/Saarland und Hessen des Deutschen Freidenker-Verbands in Zusammenarbeit mit der Jenny Marx Gesellschaft (Rosa Luxemburg Stiftung RLP), der Peter Imandt Gesellschaft (Rosa Luxemburg Stiftung im Saarland) und der Rosa Luxemburg Stiftung Hessen. Das hört sich natürlich recht sperrig an, ist aber nicht zuletzt wissenswert hinsichtlich eines Konflikts, von dem noch die Rede sein soll.
Zum Auftakt am Freitagabend kamen die eintreffenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach und nach mit improvisierten musikalischen Einlagen am Feuer zusammen. Das Abendprogramm beschloß der neue Film “Die Waldeck” von Gabi Bollinger, der Einblicke in die Geschichte des Nerother Wandervogels, der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck und der Festivals in den 60er Jahren gibt. Am Samstag fanden acht Workshops zu verschiedenen Themen statt, deren Anregungen und Ergebnisse teilweise auch Eingang in die mehrstündige Abendveranstaltung auf der Bühne fanden, auf der jeder, der das wünschte, seinen Beitrag präsentieren konnte. Den Sonntagvormittag gestalteten Gina und Frauke Pietsch, Mutter und Tochter, in Gestalt eines musikalischen Programms zu diesem Thema. Zum Abschluß durfte natürlich eine gemeinsame Auswertung nicht fehlen, derenLob, Kritik und Anregungen dem nächsten Liedersommer im Jahr 2015 zugute kommen sollen.
Klaus Hartmann
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Ein klares Begrüßungswort aus Sicht der Freidenker
Wie der Bundesvorsitzende der Freidenker, Klaus Hartmann, zur Begrüßung unterstrich, könne man den Einwand nicht gelten lassen, eine derartige Feier am Tag der Sonnenwende hätten doch schon die Nazis praktiziert. Das treffe nämlich auch für zahlreiche andere Anlässe, Jahrestage und Lieder zu, die durch die NS-Kulturpolitik kontaminiert wurden. Der Mißbrauch durch die Nazis dürfe nicht zum Maßstab der Bewertung werden, was im übrigen auch für aktuelle Themen gelte: “Weg mit Hartz IV” oder “Solidarität mit Palästina” fordere auch die NPD. Ende des 19. Jahrhunderts habe sich die Arbeiterbewegung der Sonnwendfeier angenommen, die schon seit Jahrhunderten ein zentraler Tag in den religiösen Vorstellungen war. Als Freidenker habe man mit Göttervorstellungen nichts am Hut, doch sei dies für die Arbeiterbewegung damals ein Schritt der Emanzipation vom Kirchenglauben hin zu den Naturwissenschaften gewesen.
Da die Kirche jahrhundertelang ihre Dogmen durchgesetzt hatte, gab es auch aus Sicht der Freidenkerbewegung, die den naturwissenschaftlichen Materialismus zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Überzeugungen machte, gute Gründe, sich dieses Datums zu bemächtigen und eine eigene Art der Feier dagegenzusetzen. Die Faschisten wiederum knüpften an eine andere Tradition der Sonnenwende an, nämlich die des nordischen Götterhimmels und der Herrenrasse. Gerade deswegen gebe es keinen Anlaß, dieses Datum der braunen Tradition zu überlassen. Für die Freidenker, die sich der Arbeiterbewegung angeschlossen und sich mit Marx und Engels beschäftigt haben, sei die Hinwendung zu den Naturwissenschaften eine überwundene Durchgangsphase. Heute sehen sie den zentralen Widerspruch in der Klassengesellschaft und im Klassenkampf das zentrale Moment der Auseinandersetzung.
Mit diesem Begrüßungswort versuchte Klaus Hartmanns, aus Sicht der Freidenker insbesondere jenen Vorwürfen das Wasser abzugraben, die sich assoziativer Winkelzüge bedienen, um ihre politischen Gegner mit an den Haaren herbeigezogenen Gleichsetzungen zu diffamieren.
Historisches Plakat mit Waldeck-Symbol
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“Die Waldeck” – Ein neuer Blick auf einen alten Streit?
“Wenn ich auf die Burg fahre, dann wegen der Lieder!”, sagt Gabi Bollinger zu Anfang ihres Films, in dem sie aus der Perspektive ihrer eigenen Lebensgeschichte nicht nur auf die politischen Liederfestivals der 1970er Jahre eingeht, sondern auch von der Bündischen Jugend und den Nerothern berichtet, mithin die Geschichte dieses Ortes in ihren verschiedenen Aspekten beleuchtet. Die Regisseurin arbeitet mit einer Fülle von Gesprächen mit Zeitzeugen der damaligen Ereignisse, aber auch zahlreichen Stimmen junger Leute, die über ihre Gründe sprechen, auf die Waldeck zu kommen. Natürlich lebt die zweistündige Dokumentation insbesondere von der Musik – seien es traditionelle Lieder der Bündischen Jugend, des Nerother Wandervogels oder der sich davon
absetzenden Folklore- und Protestsongs.
Im Jahr 1971 reiste Gabi Bollinger mit Gitarre und Liedern selbst in den Hunsrück. Auf der Waldeck waren die Festivals schon Vergangenheit, die zu erforschen jedoch vieles zum Vorschein brachte, was wenig oder gar nicht bekannt war. So erhält man Einblick in die Geschichte des Nerother Wandervogels, der unter dem Motto “Unser Feld ist die Welt!” auf Reisen ging, Filme drehte, Bücher schrieb, eigene Lieder komponierte und die Folklore der Welt in die deutsche Jugendbewegung brachte. 1933 wurde die Bündische Jugend verboten, es folgten die Jahre der Verfolgung, Flucht und Illegalität. Einige Bündische flohen ins Exil, andere begingen Suizid, manche starben im KZ.
An den Feuern der ABW singen Zugvögel, Pfadfinder, Freischärler – aber keine Nerother. Der Streit um Ausrichtung und Besitzansprüche hatte das Verhältnis der Nachbarn auf der Waldeck vergällt. Die neue
Jugendbewegung eroberte die traditionelle Szene, das Festival wurde Teil des internationalen Widerstands gegen den Vietnamkrieg. Es folgt eine zunehmende Politisierung, bis Singen schließlich als konterrevolutionär bezeichnet wird. Seit der Jahrtausendwende kehrt das schöpferische Element der Jugendbewegung zurück. Die ältere Generation findet Waldeck wieder, junge Leute entdecken sie neu. Wo das hinführt?, fragt Gabi Bollinger. “Zum Leben, nur zum Leben!” ist ihre Antwort.
So gewährt der Film zwar vielfältige Einblicke, bleibt aber eine dezidierte Positionierung im Ringen um politische Kunst schuldig. Er versäumt es zum einen, die Bündische Jugend und insbesondere die Nerother nicht nur im sozialen Gegenentwurf ihres Aufbruchs und ihrer Verfolgung durch die Nazis darzustellen, sondern auch in ihren unübersehbar rückwärtsgewandten und restriktiven Auffassungen zu kritisieren. Gabi Bollinger bleibt zum anderen diffus und aussagelos, was die scharfen Kontroversen auf den Festivals gegen Ende der 60er Jahre betrifft. Mangels Festlegung in diesen Fragen gerät der Film unpolitisch und huldigt letztlich einer zur Beliebigkeit entmächtigten Kultur jugendbewegten Singens.
Klangkörper in stiller Eintracht
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Aus der Arbeit in den Workshops
Da der Workshop “Kunst als Waffe” unter Leitung von Dr. Seltsam und Detlev K. gewissermaßen das Leitmotiv des Liedersommers zum Gegenstand hatte, soll ihm ein eigener Beitrag gewidmet werden. Wenngleich mit Bernd Köhler (“150 Jahre Arbeiterlied”) und Jonas Engelmann (“Popkulturkritik”) zwei vorgesehene Referenten ausfielen, sprangen andere tatkräftig ein. So leitete Sonja Gottlieb die beiden Programmteile zum Arbeiterlied, und anstelle Engelmanns erarbeitete eine kleine Gruppe unter Anleitung von Jane Zahn einen kabarettistischen Sketch, der am Abend für Heiterkeit sorgte.
Davon abgesehen war natürlich der Name eines am 14. November 2011 verstorbenen Wegbereiters des modernen politischen Liedes in vieler Munde. Uli Holzhausen und Matthias Leßmeister, die mit Liedern Franz Josef Degenhardts auf Tour gehen, trugen in ihrem Workshop Auszüge aus ihrem Repertoire vor. Die Instrumentierung von Gitarre und Akkordeon bringt eine ebenso anspruchsvolle wie beeindruckende Klangfülle hervor, die ihre Interpretation zu einem Erlebnis eigener Art macht. Aus der Fülle ihrer Recherchen banden sie die vorgetragenen Stücke in einen erläuternden Kontext ein und würdigten Degenhardts eindrückliche Bilder wie auch seine tiefe Verwurzelung im Kampf gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
Uli Holzhausen
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Matthias Leßmeister
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Von Aussagekraft waren nicht zuletzt Zitate anderer Künstler, die in diesem Workshop vorgetragen wurden:
Aus meiner Sicht war Franz Josef Degenhardt nicht nur der Altmeister des politischen Liedes und ein wunderbarer Schriftsteller, ich halte ihn für einen der bedeutendsten Poeten der deutschen Nachkriegsgeschichte.
(Konstantin Wecker)
Vor diesem Tag hatte ich seit Jahren Angst. Da ich wußte, wie krank er ist, dachte ich, was soll werden ohne ihn. Mit zwölf, dreizehn Jahren habe ich zum ersten Mal seine Lieder gehört und dann mein Leben lang. Er hat mich erzogen. Kein Tag vergeht, ohne daß ich an eine seiner Zeilen, an eines seiner Bilder, an irgendeine Degenhardt-Formulierung denke. Kein Tag, manchmal keine Stunde. Die Welt ist bevölkert mit seinen
Figuren. Was soll nun werden? (Jan Seghers)
Franz-Josef Degenhardt hat mit seinem Werk das Lebensgefühl einer ganzen Generation geprägt. Mehr kann ein Liedermacher und Romancier sich kaum wünschen. Der Nobelpreis wäre da angemessen. (Dietrich Kittner)
Mir hat Karratsch meinen Austritt aus der DKP, obwohl mein Entschluß, mich nie mehr an eine Partei zu binden, meine sozialistische Grundüberzeugung nicht berührt, übelgenommen. In einem Interview bezeichnete er die Ausgetretenen als “Pack”. Das wiederum nahm ich ihm übel. Funkstille zwischen uns war die Folge. Während dieser Zeit habe ich unsere Begegnungen, die Lieder, die Gespräche, die spannenden Diskussionen sommers unter dem alten Wildkirschenbaum in seinem Garten oder bei mir zu Hause sehr vermißt. Jahre später schrieb ich ihm dann doch, tief erschrocken über die Nachricht, er würde aus Krankheitsgründen nie wieder auftreten, und auch in dem Wunsch, mich wieder mit ihm zu versöhnen, einen Brief. Wir haben dann beide gemerkt, wie sehr uns daran lag, uns wieder zu vertragen. 2006 besuchte er mich trotz seiner Geschwächtheit zusammen mit seiner Frau Margaret, um mir
seine gerade erschienene CD “Dämmerung” zu bringen.”(Hannes Wader)
Zur Geschichte des politischen Liedes an berufenem Ort
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Im Analogieschluß historischer Niederlagen Zukunft schaffen
Es blieb Kai Degenhardt vorbehalten, im Workshop “Geschichte des politischen Liedes in Deutschland” die streitbare Tradition seines Vaters fortzuschreiben, indem er anhand historischer Bruch- und Entwicklungslinien versuchte, eine Positionsbestimmung des heutigen Standes der Linken und ihrer Lieder vorzunehmen. Dabei bezog er sich auf Songs, die den jeweils fortschrittlichen und emanzipativen Standpunkt in den politischen Kämpfen ihrer Zeit repräsentierten in Sicht auf das unabgegoltene Ziel, die klassenlose Gesellschaft zu verwirklichen. Degenhardt begreift sich als in der Tradition der “jakobinischen Linken” stehend, die die Ideale der Aufklärung und französischen Revolution allen Niederlagen zum Trotz bis heute aufrechterhält.
Daß sich die Linke seit dem Epochenwechsel 1989, als der Kapitalismus weniger siegte denn schlicht übrigblieb, auch kulturell in einem beklagenswerten Zustand befindet, daran besteht für den Musiker kein Zweifel. Wo “links” draufsteht, wie im Fall der sogenannten Poplinken, ist zumindest im Sinne der klassenkämpferischen Tradition und der streitbar aufgeworfenen sozialen Frage keineswegs immer “links” drin. Statt dessen sind gerade in den Produktionen der deutschsprachigen Popmusik regressive bis restaurative Tendenzen aller Art anzutreffen. Die sogenannte Restlinke findet sich mit allerlei begrifflichen und ideologischen Verrenkungen im Neoliberalismus ein, sie zelebriert, so
Degenhardt, einen “Imperialismus mit freundlichem Antlitz”, in dem zwar gefoltert wird, dies aber im Namen von Minderheitenrechten und Gender Mainstreaming auch bei der Bundeswehr. Für diejenige Linke, die sich mit dieser Entwicklung arrangiert, muß sich im Überbau vieles ändern, damit die Produktionsverhältnisse so bleiben, wie sie sind.
Die Unterdrückung und Vereinnahmung emanzipatorischer und revolutionärer Ideale durch die Gegenseite war aber auch schon in früheren Jahrhunderten ein probates Mittel, um der Überwindung herrschender Verhältnisse entgegenzutreten. So steht man bei der Rückverfolgung des politischen Liedes durch die Zeiten vor dem Problem, daß nur wenige schriftliche Zeugnisse etwa aus der Zeit der Bauernkriege überliefert sind. Sie wurden durch Fürsten und Kleriker nicht nur bekämpft, sondern an ihre Stelle traten die Lieder der Sieger, der Landsknechte und Priester. Obwohl das demokratische Volkslied in Deutschland eine breite Tradition hat, blieb laut Degenhardt über die Jahrhunderte fast keines erhalten. Die Erinnerung an die zahlreichen aufrührerischen Lieder, an die Klagen der Bettler und Armen, an die Spottlieder über die Obrigkeit oder die Lieder der Soldaten über das Elend des Krieges wurde unter anderem durch die deutsche Germanistik und deutschnationale Volksliedsammlungen getilgt. In der Phase der Restauration zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging der rebellische Geist, der von der französischen Revolution auch auf deutsche Lande übergriff, im Pathos der gegen Napoleons Invasion gerichteten deutschnationalen Einheitspropaganda unter.
Auch nach 1848 diente sich die deutsche Volksliedforschung bis auf wenige Ausnahmen der Reaktion an, indem sie den traditionell demokratischen Gehalt rebellischer Gesänge unterschlug. Damit wurde eine Wurzel des faschistischen Mißbrauchs deutschsprachigen Liedgutes gelegt, den zu überwinden in der Bundesrepublik erst in den 1960er Jahren auf der Waldeck, dem “Heimatplaneten des politischen Liedes nach 1945”, so Degenhardt, gelang. Warum dies so lang dauerte und worin der Mißstand überhaupt bestand, hat Franz Josef Degenhardt in diesen vielzitierten Zeilen aus “Die alten Lieder” kundgetan:
“Tot sind unsere Lieder
unsre alten Lieder.
Lehrer haben sie zerbissen,
Kurzbehoste sie zerklampft,
braune Horden totgeschrien,
Stiefel in den Dreck gestampft.”
Im Ergebnis mündete dieser aufgrund der kritisch aufbereiteten Darstellung der Geschichte des politischen Liedes in Deutschland höchst interessante Workshop in den Versuch, historische Analogien aufzuzeigen, um der Linken eine Zukunft zu geben, die sie nach Lage der Dinge nicht zu haben scheint. Befindet sie sich in der Epoche zwischen der Restauration und dem Vormärz, ist schon wieder Nachmärz oder quält sie sich gar über die längere Durststrecke zwischen der Zeit der Bauernkriege und der Aufklärung im 18. Jahrhundert? Weitermachen auch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle in radikaler Dissidenz zum Bestehenden ist zweifellos ein probates Mittel, um eine antikapitalistische Gegenbewegung in der höchst effizient funktionierenden Herrschaftsform einer Demokratie, die kaum noch Zensur oder Verbot braucht, weil der Markt alles regelt, fortzusetzen. Warum also nicht einmal wieder Balladen schreiben?, so der fragende Ausklang eines zweistündigen Gesprächs in der erfreulichen Umgebung der Waldecker Natur.
Theorie und Praxis – Auftritt Kai Degenhardt
Foto: © 2013 by Schattenblick
Kai Degenhardt ist aus überlegtem Grund pessimistisch gestimmt und befürchtet, daß die Traditionslinie der jakobinischen Linken nach einem Vierteljahrhundert der Niederlage abzureißen droht. Ohne eine nüchterne Analyse dieses historischen Niedergangs wird kaum der Mut für einen Neubeginn zu fassen sein. Immerhin ist auch er der Ansicht, daß es kein Ende der Geschichte gibt, und vermag dem jüngsten Aufstand in der Türkei die Hoffnung abzugewinnen, daß grenzüberschreitende Entwicklungen den Humus für einen neuen Aufbruch bilden könnten.
Tatsächlich gibt es gute Gründe, über die Grenzen zu blicken und vor allem neue Bande internationalistischer Zusammenarbeit zu knüpfen. Revolutionäres Liedgut ist gerade heute in der Türkei sehr präsent, wie die von Hunderttausenden mit kämpferischen Parolen und Gesängen begleiteten Auftritte der kommunistischen Grup Yorum belegen. Als deren Musikerinnen und Musiker, die in der Türkei immer wieder Opfer staatlicher Verfolgung werden, am 8. Juni in Oberhausen ein Solidaritätskonzert für die Opfer der NSU-Attentate und die Aktivistinnen und Aktivisten des Taksim-Platzes abhielten, kamen bis zu 14.000 Menschen aus der ganzen Bundesrepublik zusammen, um diesen kulturellen Anlaß in eine kraftvolle politische Manifestation zu verwandeln [1]. Die auf dieses Ereignis folgenden Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, mit denen deutsche Behörden am 26. Juni gegen der Anatolischen Föderation zugeschriebene Personen und Einrichtungen vorgingen, zeigen, wie unverzichtbar internationale Solidarität gegen die in diesem Fall keine Grenzen kennende Repression der Staatsapparate ist [2].
Musikandes in Aktion
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Die Hände Victor Jaras
Zum 40. Todestag Victor Jaras trugen Romina Tobar und Daniel Osorio von den Musikandes, deren Workshop zu den musikalischen Höhepunkten des Liedersommers gehörte, Stücke des von den Schergen der Junta ermordeten chilenischen Sängers vor. Victor Jara gehört zu den intellektuellen Grundpfeilern für “Das Neue Chilenische Lied”, eine Bewegung, die sich in ganz Lateinamerika durchgesetzt hat. Sie legte ihren Schwerpunkt auf soziale Gerechtigkeit für das unterdrückte Volk. Die politisch engagierte Arbeit Victor Jaras hinterließ sowohl in künstlerischer wie politischer Hinsicht unverzichtbare Lehren für die neue Generation, nicht nur für Künstler, sondern auch für Gewerkschafter, die Studentenbewegung und andere Formen des Widerstands. Die Bedeutung seiner Person und seines Werks darf nicht durch die brutale Art und Weise, wie er im Stadion von den Putschisten gefoltert und ermordet wurde, in Vergessenheit geraten. Seine Frau betonte: “Die Hände Victors sollen sich in ein Symbol für den Aufbau eine besseren, solidarischen und engagierten Welt verwandeln.” [3]
Im Workshop der Musikandes wurde das kulturelle und politische Erbe dieses sozial engagierten Künstlers, der seine Schaffenskraft als
Theaterregisseur und Musiker auf das Schicksal und den täglichen Kampf der ArbeiterInnen und Armen konzentriert hat, anhand von Videos, Liedern und Textpassagen gewürdigt. In Zusammenarbeit mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ging man zudem daran, Überlegungen anzustellen, welche Entwicklung das politische Lied nehmen sollte.
Nachmittäglicher Auftakt zum Liederabend
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Der lange Liederabend von allen und für alle
Zum Auftakt des Liederabends versäumte es Klaus Hartmann nicht, wiederum einen politischen Rahmen zu setzen. Er erinnerte an das Verbot des deutschen Freidenkerverbands nach der Machtergreifung der Nazis wie auch daran, daß führende Persönlichkeiten der Freidenker im Widerstand aktiv waren. So wurde Max Sievers 1943 verraten und verhaftet, im März 1944 hingerichtet. Als historisches Erbe halte man an der ungeteilten Losung “Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!” fest. Dies begründete das Engagement gegen die Aggression der NATO-Staaten gegen Libyen und die Forderung “Hände weg von Syrien!” der von den Freidenkern wesentlich mitgestalteten Antikriegsdemo mit 3000 Teilnehmern in Frankfurt am Main. Die Linken in all ihren Schattierungen gerieten leider in der Frage von Krieg und Frieden durcheinander. Die Freidenker träten für den Erhalt eines säkularen Staates in Syrien ein. Gegen Begriffsverwirrungen aller Art brauche man Klarheit in den Köpfen, um stärkeren Widerstand zu entwickeln. Deshalb sei die Losung des Workshops “Kunst als Waffe” als Instrument des Widerstands gegen die reaktionäre Regierungspolitik und für Solidarität mit den Demonstrierenden in Istanbul oder Blockupy in Frankfurt eine dringend notwendige Aufgabe, wenn man wirksameren Widerstand auf die Straße bringen wolle.
Sonja Gottlieb präsentiert Arbeiterlieder mit ihrem Workshop
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Dann wurde das Programm des Liederabends unter dem Motto eröffnet, daß heute alles erlaubt sei und jeder auf die Bühne kommen könne, der etwas dazu vorbereitet habe. Im Laufe des Abends folgten 15 verschiedene Beiträge, in Solo, Duett oder Gruppe gesungen, gespielt oder vorgelesen. Uli Holzhauser und Matthias Leßmeister trugen mit “Auf der Heide”, “Am Fluß” und “Tarantella” drei Lieder Franz Josef Degenhardts vor, Kai Degenhardt spielte eine eigene Ballade über Migranten in Deutschland sowie “So sind hier die Leute” seines Vaters in eigener Interpretation. Jane Zahn brachte mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern ihres Workshops in dem bösen Sketch “Kochshow Syrien” das Publikum zum Lachen, worauf sie”Wenn der Papst den Tango tanzt” zum besten gab.
Ernst Schwarz – “De Kommunismus hätt eene Rhythmus”
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Ernst Schwarz sang das ursprünglich gegen den Jugoslawienkrieg komponierte, doch nach wie vor aktuelle Lied “Sagt nein!” und lud sodann das Publikum mit Chorbegleitung ein, zur gassenhauerartigen Hymne “De Kommunismus hätt eene Rhythmus”, von den Fidelen Kubäncher uraufgeführt auf der Kölner Stunksitzung, zu schunkeln. Sonja Gottlieb trug allein und mit Chor Arbeiterlieder vor, gefolgt von der Mainzer Straßenband Strohfeuer Express, die der Friedensbewegung entstammt und für eine gewaltfreie, ökologische und sozialorientierte Gegenwart singt.
Detlev K. – “mit ‘v’ für Revolution und nicht ‘f’ für Reform”
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Detlev K. ging wie üblich ans Eingemachte: “Wer nur Musiker ist, ist auf Deutsch gesagt fürn Arsch. Man muß schon an den Kämpfen teilnehmen.” Er sang und spielte “Die Ballade von der vermeidbaren Gentrifizierung in Berlin-Reinickendorf”, gewidmet der dabei verstorbenen Rosemarie Fließ. An “Ihr seid ja immer noch da” über die Generation der Nazis schloß sich “Rote Armee Fraktion” von der Punk-Band WIZO an, alles offensiv vorgetragen mit der ganzen Wucht einer Einmannkapelle. Der als Hommage an Freddy Quinn und die Vergangenheit der Linken mit Inbrunst geschmetterte Schlager “Schön war die Zeit” war Monique Broquard gewidmet, ohne deren unermüdliche Arbeit der fünfte Liedersommer nicht möglich gewesen wäre.
Jürgen Eger (Malcolm Z, der weiße Nigger aus Deutschland Ost, ein ehemaliger Mensch aus der ehemaligen DDR) erzählte aus der Zeit, “als wir angeschlossen wurden”. Er hätte damals schon gern die sokratische Methode angewendet und das vorherrschende Denken mit zwei, drei Fragen aufgebrochen: “Wo einem die Propaganda Wörter entgegenschmeißt, die eigentlich nach Gegenwörtern verlangen, die aber nicht stattfinden, da lauert immer der Beschiß!” Mit “Ehrenwort” und “Berufsverbot” gab er sodann beeindruckende Kostproben seines Könnens zwischen politisch beißender Ironie und einer für die DDR typischen Liedermachereloquenz.
Der Straßenmusiker Philipp Hofmann sang zwei Lieder von Peter Rohland: “Solang die Kesselflickerei noch blüht” und “Der Bettelvogt” sowie unter allgemeiner Beteiligung das Lied der Interbrigaden aus dem spanischen Bürgerkrieg. Hartmut Barth-Engelbart trug donnernd die eigenen Gedichte “Belgrad”, “Überforderung” und “Deutschlandreise im ICE” vor. Theo Meiser las von ihm verfaßte satirische und ermutigende Texte. Die Gruppe Albatross spielte in Neubesetzung das Lied “Ich wollt, ich wär ne Bank!”, das im Zusammenhang mit Blockupy entstanden ist und nicht zuletzt das dumme Huhn, das arme Schwein, Müllers Kuh und als Hauptfigur den Banker präsentiert.
Die Gruppe Albatross wirft einen schrägen Blick auf Bankfurt
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Romina Tobar und Daniel Osorio, die wie schon vor zwei Jahren auch
diesmal die gesamte Tontechnik des Liedersommers gewährleisteten und ihren eigenen Workshop geleitet hatten, spielten zur Freude des
Publikums Stücke aus dem Repertoire der Musikandes. Auf ein Instrumentalstück aus Venezuela auf traditionellen Instrumenten folgte ein Lied aus dem spanischen Bürgerkrieg von Violeta Parra (“Was würde der Heilige Vater wohl sagen?”), das aus Venezuela stammende “Muntilla” sowie als stürmisch geforderte Zugabe von Victor Jara “Gebet eines Bauern”.
Den Abschluß des langen und vielfältigen Liederabends gestaltete die Gruppe “Bandbreite” mit Songs über die Atlantikbrücke (“Die Mafia”), gegen den Krieg (“Wann wird man je verstehn?”), dem Titel “Du bist mein Freund” sowie der Ballade “Deutsche Innenansichten”. Der um diesen Auftritt entbrannte Konflikt soll aufgrund seiner weitreichenden Bedeutung für die Frage linker Positionsbestimmung in gebotener Ausführlichkeit für all diejenigen, die es interessiert, zum Abschluß des Beitrags diskutiert werden.
Die Offenheit dieses Liederabends, alle gewünschten Beiträge zu präsentieren und sich darum zu bemühen, Ausgrenzungen und Unvereinbarkeiten aus dem Feld zu schlagen, war charakteristisch für den gesamten Linken Liedersommer. Er steht in Konzept und Umsetzung für die Wiedergewinnung eines solidarischen Umgangs miteinander, der Unterschiede weder Bemessungen unterwirft, noch sie zu nivellieren trachtet.
Tochter und Mutter künstlerisch vereint
Foto: © 2013 by Schattenblick
Reflexionen im Bund der Generationen
Gina und Frauke Pietsch nahmen sich zum Ende des Linken Liedersommers am Sonntag unter dem Titel “Mütter Töchter” eines Themas an, das sowohl in der psychologischen als auch der Liedliteratur lange sehr stiefmütterlich behandelt wurde. Erst in den letzten 20 Jahren haben sich feministische Psychologinnen damit beschäftigt und sind zu recht erstaunlichen Erkenntnissen gelangt. Die beiden erfahrenen Bühnenkünstlerinnen hatten themenbezogene Lieder gesammelt, was nicht einfach war, wie sie zu berichten wußten. Wechselweise gesungen und gegenseitig musikalisch begleitet, teils im Duett und mitunter auch in Gedichtform vorgetragen, beeindruckten sie als Musikerinnen, doch nicht zuletzt auch im Umgang mit ihrer eigenen Beziehung.
Ob Hildegard Knef oder Tori Amos, León Gieco, Reinhard Mey, Violeta Parra oder Elfriede Jelinek, Kurt Tucholsky oder Georg Kreisler – entscheidend war in jedem Fall ein ganz spezieller Blickwinkel, der sich auf das Verhältnis von Mutter und Tochter anwenden ließ. So wechselte Frohes und Lustiges mit Verstrickung und Grausamkeit, wenn Gina und Frauke Pietsch das Publikum in ihren Bann schlugen. Die glückliche Mutter am Bett ihres Kindes, die Trauer um die verstorbene Tochter, das ganz spezielle Wesen der jiddischen Mame, der Kindesmord aus schierer Not – ein Wechselbad der Eindrücke und Gefühle, das der Komplexität des Themas auf ergreifende Weise Rechnung trug.
Gina Pietsch – Sängerin, Schauspielerin, Mutter
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Das Verhältnis von Mutter und Tochter halte sehr viel aus, doch setze
dies voraus, daß die beiden mehr sind als dieses biologischeMutter-Tochter-Sein. Sie müßten lernen, darüber hinaus Wesen zu sein, die eigene sind. Andernfalls müsse die Mutter damit rechnen, daß dieTochter sagt, so wie diese Frau wolle sie nicht sein. Dabei möchte die Tochter vielleicht sagen, daß diese Frau ihr Vorbild ist. Eines Tages
könne die Mutter vielleicht von ihrer Tochter sagen: “Du kommst von mir, aber ich kann ohne dich sein. Oder noch schöner: Wenn ich dich anschaue, könnte ich vor Stolz platzen, vor Zorn erbeben und vor Liebe vergehen.”
Streitfall Die Bandbreite
Foto: © 2013 by Schattenblick
Eklat programmiert – Der Auftritt der HipHop-Gruppe Die Bandbreite
Wer nicht im voraus informiert war, den traf der Eklat um den Auftritt
der HipHop-Gruppe Die Bandbreite doch etwas überraschend. Zwar war spätestens nach Ankunft des Duos klar, daß die einer größeren Zahl sich zum linken Spektrum zählender Organisationen und Personen auf ihren Treffen und Veranstaltungen unwillkommene Gruppe auch auf der Waldeck von einigen Besucherinnen und Besuchern des Linken Liedersommers nicht gerne gesehen war, während andere ausgesprochene Fans zu sein schienen. Als dann Salvador Oberhaus, Leiter des Büros der Rosa Luxemburg Stiftung Rheinland-Pfalz, zu Beginn des Liederabends ans Mikrofon trat und statt der nun erwarteten Eröffnungsansprache einen kurzen Text verlas, in dem die Stiftung ihren Rückzug vom Linken Liedersommer ankündigte, ahnte auch der Außenstehende, daß hier einiges im Vorfeld aufgekocht sein mußte.
“Nach unserer Auffassung darf einer Band, die es zumindest bewusst in Kauf nimmt, nach rechts hin anschlussfähig zu sein, auf einer linken Veranstaltung nicht die Möglichkeit geboten werden, ihr krudes Weltbild zu propagieren. Aktueller Anlass unserer Kritik ist die von der Band getextete, komponierte und eingespielte Hymne für die Rechtspartei ‘NeueMitte’. Diese Partei schließt programmatisch an verschiedene gegenwärtige Verschwörungstheorien und Ideologien der Ungleichwertigkeit
an. Die Partei tritt u. a. für eine rigide Einwanderungs- und ‘Integrations-‘Politik ein.
Werk und Geschichte der Band DIE BANDBREITE sind nach unserer Auffassung nicht mit linken Idealen in Einklang zu bringen. DIE BANDBREITE ist uns nicht willkommen, weshalb wir uns als Mitveranstalterin zurückziehen.”
[4]
Diese Erklärung konnte in ihrer Kürze nicht befriedigen, so daß an dieser Stelle etwas genauer untersucht werden soll, wie stichhaltig der Vorwurf der RLS ist. Schließlich versuchte hier eine Förderin des Linken Liedersommers, deren Name mit dem keineswegs auf einen bürgerlichen Toleranzbegriff zu reduzierenden Satz Rosa Luxemburgs von der “Freiheit der Andersdenkenden” assoziiert wird, zensierenden Einfluß auf das Programm der Veranstaltung zu nehmen.
Konsultiert man das Parteiprogramm der Neuen Mitte [5], so trifft man auf ein buntes Sammelsurium von Programmpunkten, die man allesamt bei dieser oder jener im Bundestag vertretenen Partei wiederfinden könnte. Tatsächlich reflektiert der Abschnitt über Migrationspolitik die unsolidarische Haltung einer selektiven Einwanderungspolitik, wie sie im politischen Mainstream üblich ist. Dies zum Ausschließungsgrund zu machen, zeugt bei einer der Partei Die Linke nahestehenden Stiftung, die ihrerseits Offerten an eine SPD macht, die nicht willens ist, einen Thilo Sarrazin auszuschließen, nicht eben von ideologiekritischer Kohärenz.
Die von der Bandbreite komponierte Hymne siedelt politisch in einem Reformismus, der fernab jeder grundlegenden Imperialismusanalyse und Kapitalismuskritik das Ideal einer demokratisch verfaßten Gesellschaft zelebriert, die wunderbar funktionieren könnte, wenn nur die Hegemonie der USA gebrochen wäre, Lobbyisten und Think Tanks ihres Einflusses enthoben wären und die Wirtschaft an einem mittelständischen Unternehmertum genäse, das seine Beschäftigten am Gewinn beteiligte. Was auf demonstrative Weise naiv daherkommt, knüpft an Vorstellungen eines im Prinzip reformfähigen und zum Wohle aller zu entwickelnden Kapitalismus an, wie sie auch in den auf Regierungsfähigkeit abonnierten Kreisen der Partei Die Linke anzutreffen sind. Die Neue Mitte pauschal als Rechtspartei zu disqualifizieren kann daher nur gelingen, wenn das gesamte Ordnungsspektrum des Parlamentarismus in etwa so gewichtet würde, daß nur der linke Flügel der Linkspartei unter dem Begriff links zu subsumieren wäre.
Gegenüber dem Schattenblick wiesen Wojna und DJ Torben von der Bandbreite den Vorwurf einer rechtsoffenen Positionierung grundsätzlich zurück. Zudem hätten sie eigene Stellungnahmen zu den gegen sie gerichteten Vorwürfen unter dem Titel “Die komplette Bandbreite” auf ihre Webseite gestellt [6]. Darüber hinaus berufe sich Die Bandbreite selbstverständlich auf die Freiheit der Kunst. Inzwischen hat auch der veranstaltende Freidenker-Verband eine ausführliche Stellungnahme zu dem Konflikt veröffentlicht [7].
Die Frage, wieso bei inhaltlichen Problemen mit einzelnen Aussagen einer künstlerischen Inszenierung zum Holzhammer der Zensur respektive der Aufkündigung einer ansonsten auch laut RLS bewährten Zusammenarbeit gegriffen werden mußte, hat in Anbetracht des beklagenswerten Zustands der linken Bewegung, trotz einer immer geringeren Zahl von Aktivistinnen und Aktivisten in diverse ideologisch zueinander unverträgliche Strömungen zerfallen zu sein, große Relevanz. So ist die RLS ihrerseits keineswegs eine revolutionäre und unbedingt antikapitalistische Organisation, sondern eingebunden in den politischen Legitimationsapparat der kapitalistischen Gesellschaft. Aus dieser Position heraus zum Beispiel Initiativen der Palästinasolidarität mit dem Vorwurf des Antisemitismus zu belegen, während staatliche Repressionspraktiken Israels weitgehend sakrosankt zu sein scheinen, dürfte eher politischer Rücksichtnahme geschuldet sein, als daß nach Maßgabe eines vorurteilsfreien Wertekodex darüber befunden würde, wer seine Stimme erheben darf und wer nicht. Der Radikalität einer systemüberwindenden Staatskritik wird niemand gerecht, der die ethnisch-religiös definierte Staatlichkeit Israels als historischen Sonderfall verteidigt und damit staatliche Gewaltakte aller Art legitimiert.
Von daher ist der Abstand zwischen den vermeintlich verwerflichen Positionen der Bandbreite und dem systemkonformen Manövrieren der RLS vielleicht nicht so groß, wie er angesichts dieses Zerwürfnisses erscheint. Der hauptsächliche Dissens dürfte im vordergründigen Charakter einer Gesellschaftskritik liegen, wie ihn die Bandbreite etwa im Song “Die Mafia” präsentierte. Daß diese das Land in Form von Think Tanks wie der Atlantik-Brücke beherrsche und ein “RAF-Phantom” geschaffen habe, um vermeintlich US-Interessen in Frage stellende Vertreter der BRD-Eliten wie Alfred Herrhausen und Karsten Rohwedder zu beseitigen, dient sich der Geschichtsklitterung eines Stefan Aust an, dem es in erster Linie darum geht, revolutionäre Geschichte jedes auch nur entfernt legitimen Motivs zu entheben, das den gesellschaftlichen Widerspruchslagen ihrer Zeit entsprang. Die Bundesrepublik als von den USA verfügtes und von einer Mafia beherrschtes Land darzustellen, verharmlost das Eigeninteresse des deutschen Imperialismus an der transatlantischen Zusammenarbeit und stellt eine gesellschaftliche Funktionsfähigkeit innerhalb des kapitalistischen Verwertungsbetriebs in Aussicht, die keinen Begriff vom Kapitalverhältnis und Klassenkampf hat. Dementsprechend frönt das Bild der Mafia einem Legalismus, der die kritische Überprüfung der Frage des Rechts im Kapitalismus meidet, weil Rechtsförmigkeit und Herrschaftskritik nicht zusammengedacht werden.
Antikapitalistische Kritik liegt der Bandbreite fern, sie appelliert vielmehr an ein Bündnis zwischen linken und bürgerlichen Kräften zugunsten eines Reformismus, der den programmatischen Irreführungen und Verblendungen politischer und kulturindustrieller Funktionseliten den Anspruch auf Wahrheit entgegenhält, als sei diese allein in der Lage, die materiellen Zwangsverhältnisse kapitalistischer Vergesellschaftung außer Kraft zu setzen. Was der Bandbreite mit dem Stigma der “Verschwörungstheorie” angelastet wird, trifft auf eine allerdings andere Weise als die beklagte Diffamierung der USA als Hort des Bösen zu. So empören sich viele Menschen über die unter dem Slogan “selbstgemacht” propagierten 9/11-Theorien, weil diese einem platten Antiamerikanismus mit antisemitischen Versatzstücken huldigten. Tatsächlich gibt es zahlreiche Lücken und Widersprüche in der regierungsamtlichen Darstellung der Ereignisse des 11. September 2001.
Nach zwölf Jahren, in denen Millionen Menschen im keineswegs durch 9/11 bedingten sozialen Krieg durch Hunger, durch Ausbeutung in der Arbeit, durch ökologische Zerstörung, durch militärische Gewalt und die sozial destruktiven Folgewirkungen der Armut ums Leben gekommen sind, weiterhin zu versuchen, den Vorwandscharakter für zahlreiche Maßnahmen exekutiver Ermächtigung im Sinne der Frage “Cui bono?” durch die Aufdeckung des vermeintlich wahren Hergangs der Anschläge aushebeln zu wollen, ist ein unzureichendes Mittel gegen die Verabsolutierung des staatlichen Gewaltmonopols. Man geht nicht nur fehl in der Annahme, daß sich die Dinge über eine Entlarvung des vermeintlichen Truggebildes zum Besseren wenden ließen, sondern vermeidet, jene Gewaltverhältnisse, die Ausbeutung und Unterdrückung weltweit bedingen, im Rahmen einer materialistischen Analyse zu antizipieren. Im Kontext der Verschärfung gesellschaftlicher Widerspruchslagen, angeheizt durch mehrere synchron verlaufende globale Krisen, steht die sogenannte Truther-Bewegung heute im Zeichen der Ausflucht, sich mit den brisanten Herausforderungen des kapitalistischen Normalbetriebs nicht konfrontieren zu wollen.
Ausgeklammert wird der Primat einer Machtfrage, die im Vorwege der Erwirtschaftung politischer Handlungsfreiheit und exekutiver Sondervollmachten längst zugunsten des Staates und der mit ihm assoziierten Kapitale beantwortet wurde. Kriegsvorwände zu schaffen gehört zum Einmaleins imperialistischer Politik, und sollten sie in ihrem irreführenden Charakter einmal auffliegen, dann finden sich zahlreiche Zeithistoriker und Völkerrechtler, die begründen, warum dieser Schritt in der gegebenen Lage zur Rettung der “freien Welt” gerade erforderlich war. Das Eigeninteresse der Bevölkerungen, den Staat als Überlebensgarantie zu begreifen und seine Gewaltakte gutzuheißen, läßt sich sehr viel leichter im Sinne nationalistischer Zustimmung zur Ausbeutung und Unterdrückung der anderen mobilisieren, als daß die Analyse des ökonomischen Gefälles im kapitalistischen Weltsystem auf breiter Ebene zu einem Internationalismus führte, der die am meisten geschundenen und erniedrigten Menschen zum zentralen Subjekt revolutionärer Bestrebungen machte.
Dennoch äußert sich in der Abwehr sogenannter Verschwörungstheorien nicht selten eine kaum weniger affirmative Grundhaltung, als dem Glauben an die heilende Kraft einer breit rezipierten Wahrheit eigen ist. Dem Vorwurf der verkürzten Kapitalismuskritik steht keineswegs immer das entschiedene Bemühen um eine fundamentale Aufhebung herrschender Verhältnisse gegenüber. Häufig resultiert er schlicht aus Strategieneiner sich ideologiekritisch gerierenden Selbstbehauptung, die die eigene Stellung in einer politischen Organisation, einem akademischen Institut oder arrivierten Beruf sichern soll. Wo Die Bandbreite anhand mafiöser Machenschaften den Glauben an Freiheit und Demokratie beschwört, der den Zwangscharakter materieller Gewaltverhältnisse auf die Instanzen des Rechtsstaates und den Kampf um die Kommandohöhe staatlicher Souveränität begrenzt, da profilieren sich ihre Gegner, die nichts als den Ausschluß der Gruppe von öffentlichen Auftritten fordern, mit einem ideologischen Puritanismus, der als Desiderat revolutionärer antikapitalistischer Praxis die Transformation der Restlinken zur Verfügungsmasse berufständischer Interessen vorantreibt.
Gefragt wäre die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Begründungen und Forderungen, die Die Bandbreite dazu veranlassen, sich populistischer Emphase zu bedienen, wo die Konfrontation mit der Ohnmacht, in der sich jeder herrschaftskritische Mensch heute befindet, Ausgangspunkt zu neuen Überlegungen hinsichtlich der verlangten Einheit der Linken sein könnte. Gerade wo die Freiheit der Kunst auf dem Spiel steht, sollte sie vollständig in Anspruch genommen werden. Die von der Bandbreite präsentierte Mischung aus visualisierten Fakten und politischen Auslegungen derselben nehmen diese Freiheit selbstverständlich in Anspruch, doch lassen die Suggestionen und Mutmaßungen finsterer Ränkespiele jeden subversiven Charakter vermissen.
Wo die mit ästhetischen Mitteln propagierte politische Position der detaillierten Rückbindung an Fakten bedarf, mit denen die Welt hinter der Welt erklärt wird, anstatt das offenkundig Inakzeptable, das keiner weiteren Erläuterung und Begründung bedarf, radikal zu verwerfen, werden die Mißstände dieser Welt nicht überwunden, sondern neu arrangiert. Zweifellos wird im Geheimen agiert, doch das Erklärungsmodell, das diesen Sachverhalt zum maßgeblichen Grund für die Durchsetzung spezifischer Interessen erhebt, verharmlost die alltägliche Barbarei. Um die Herrschaft des Menschen über den Menschen, um versklavende Produktionsverhältnisse, territoriale Grenzen, Staat und Nation, die Ausbeutung der Tiere und Natur zu beenden, reicht die Anprangerung grauer Eminenzen und finsterer Machenschaften nicht aus. Unterhalb der Beseitigung des Kapitalverhältnisses wird kaum der erste Schritt zur Befreiung zu machen sein, werden die Probleme des Menschen, die weiter reichen als seine Verfügbarkeit durch den Wert, nicht in Angriff genommen. Künstlerische Freiheit könnte demgegenüber darin hervortreten, daß den bedrückenden Bedingungen und Entwicklungen eineErkenntnisfähigkeit abgerungen wird, deren dialektische Beweglichkeit den argumentativen Druck positivistischer Sachzwanglogik gegen sich selbst kehrt.
Dem Linken Liedersommer gereicht es nicht zum Vorteil, wenn dem Versuch, die Veranstaltung insgesamt zu diskreditieren, nicht durch den Streit um die eigene politische Positionsbestimmung entgegengetreten wird. Eine Diskussion des Eklats mit oder ohne Die Bandbreite wäre weit förderlicher gewesen, als die Fronten durch den Verzicht auf eine Debatte während dieses Wochenendes verhärten zu lassen. Sie hätte auch denjenigen Zuschauerinnen und Zuschauern, die die politischen Positionen der Gruppe als antiemanzipatorisch verstehen, die Gelegenheit zur Kritik gegeben, um einzulösen, was als Kern des Bemühens um sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt immer im Vordergrund stehen sollte – das gemeinsame Ringen um fruchtbare Erkenntnis.
Morgendliches Festivalgelände Burg Waldeck
Foto: © 2013 by Schattenblick
Fußnoten:
[1] http://political-prisoners.net/item/2316-liebe-freundinnen-und-freunde-zum-yorumkonzert-in-oberhausen.html
[2] http://zusammenkaempfen.bplaced.net/2013/07/erklarung-der-internationalen-plattform-gegen-isolation/
[3] http://musikandes.blogspot.de/2013/06/und-jetzt-wir-fahren-nach-burg-waldeck.html
[4] http://www.rosalux.de/event/47680/linker-liedersommer-2013-fuer-eine-solidarische-welt-gegen-ausbeutung-und-krieg.html
[5] http://www.neue-mitte.net/pdf/neue-mitte_wahl_2013_kurzprogramm.pdf
[6] http://www.diekomplettebandbreite.de/
[7] http://www.linker-liedersommer-waldeck.de/wp-content/uploads/2013/06/linker-liedersommer-2013-fazit.pdf
Bisherige Beiträge zum Linken Liedersommer auf Burg Waldeck im Schattenblick unter INFOPOOL ? MUSIK ? REPORT:
BERICHT/013: Eine Burg und linke Lieder – wie alles kam (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0013.html
9. Juli 2013