Eine Burg und linke Lieder – Die Kunst zu treffen
Workshop “Kunst als Waffe” am 22. Juni 2013 auf Burg Waldeck
Aus der Ausstellung “Kultur und Widerstand von 1967 bis heute” [1]
Foto: 2013 by Schattenblick
Beim diesjährigen Linken Liedersommer vom 21. bis 23. Juni auf Burg Waldeck zielte der Workshop “Kunst als Waffe” thematisch geradewegs ins Schwarze jener Frage, die politische Künstler und zwangsläufig auch die sich der Kunst bedienende Politik seit jeher beschäftigt hat. Kann man Menschen mit künstlerischen Mitteln im emanzipatorischen Sinn zum Aufbegehren gegen die herrschenden Verhältnisse inspirieren oder im Gegenteil zu den reaktionärsten Gesinnungen und Greueltaten verleiten und anstacheln?
Im Zuge der Recherche stößt man auf zahlreiche Quellen, die solche Zusammenhänge zu belegen scheinen, doch ist Vorsicht geboten. Der Wunsch, Kausalitäten zu erwirtschaften und daraus gültige Handlungsschlüssel abzuleiten, mündet allzu leicht in eine Umdeutung bloßer Koinzidenzen, eine emotionsgetragene Verklärung oder eine ideologiediktierte Normierung. Wo man Ursache und Wirkung zu einem Zwillingspaar verkettet, gilt es zuallererst zu prüfen, ob nicht der Rückschluß auf vermeintliche Herkünfte des Ereignisses einen Nexus fabriziert, der einen aller Mühe zu entheben scheint, die Fragestellung weiterzuentwickeln.
Dr. Seltsam, musikalisch unterstützt von seinem kongenialen Partner Detlev K., verabreichte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops erfreulicherweise nicht die gesüßte Medizin opportunen Lösungsdenkens und konsensheischender Kurzschlüsse. Getreu seiner Erfahrung aus 25 Jahren vielgestaltiger Projektarbeit an der kulturellen Basis Berlins, eröffnete er die Zusammenkunft mit der skeptischen These, daß man keine Kunst erfinden könne, die die Menschen revolutioniert. Dieses Mißverhältnis sei Gegenstand seines Vortrags, den er mit vielen Beispielen angereichert habe. Solche Ernüchterung an den Anfang zu stellen, grub heroischem Pathos und harmonieträchtiger Liederseligkeit das Wasser ab.
Wenngleich das Interesse, sich zur Beförderung politischer Zielsetzungen künstlerischer Mittel zu bedienen, auf seiten der Linken und Rechten gleichermaßen Fuß faßt, ist deren Ausgangssituation doch ganz verschieden. Reaktionäre bis neonazistische Gesinnungen und Gruppierungen gehen mit wesentlich herrschaftssichernden Doktrinen und Strukturen konform, indem sie kapitalistische Verwertung und repressive Staatlichkeit nicht angreifen, sondern im Gegenteil gemäß ihrer Ideologie zu verschärfen trachten. Zudem sind ehemals am rechten Rand angesiedelte Maximen sozialer Ausgrenzung und Verfolgung armer und migrantischer Bevölkerungsteile längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Treten die Rechten an, konkurrenzgetriebenen Selbstbehauptungsfuror zu Lasten Schwächerer zu befeuern und nationalchauvinistische Machtgelüste zu munitionieren, rennen sie offene Türen systemkonformer Massenwirksamkeit ein.
Ihr Kulturgut zielt darauf ab, dem Vorteilsstreben innewohnende Aggressionen zu legitimieren, freizusetzen und zu kanalisieren, so daß ihre Wucht nicht die Nutznießer und Protagonisten kapitalistischer Herrschaft trifft, sondern unter forcierter Affirmation der hegemonialen Ideologiebildung gegen spezifische Opfergruppen gelenkt wird. Als Beispiel für die Wirksamkeit einer im NS-Staat geförderten Kunst nannte der Referent den Film “Jud Süß”, der in der Aufbauphase des KZ Auschwitz gezeigt wurde. Als der Film zu Ende war, zogen betrunkene SS-Männer los und erschlugen jüdische Zwangsarbeiter mit Spaten, so daß man im denkbar schrecklichsten Sinn von einem unmittelbaren Übertrag sprechen könnte.
Dr. Seltsam – auch ohne rote Fliege unverwechselbar
Foto: © 2013 by Schattenblick
In radikaler Negation des Bestehenden
Eine Linke, die sich den Kampf gegen die herrschende Gesellschaftsordnung auf die Fahne geschrieben hat, tritt als Minderheit gegen das gesamte Ensemble dieser Verhältnisse an. Sie will wachrufen, was kaum vorhanden ist, ja in radikaler Negation des Bestehenden etwas schaffen, wofür es kein Beispiel gibt. Da linke Kunst demzufolge nicht mit dem Strom schwimmt, sondern sich ihm entgegenstemmt, stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit ganz anders. Dr. Seltsam zitierte folgende Aussage von Karl Marx:
Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Masse ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist, die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel aber für den Menschen und seine Verhältnisse ist der Mensch. [2]
Wenngleich damit keineswegs alles gesagt ist, weist diese Passage doch in Übertragung auf die Wirksamkeit linker Kunst darauf hin, daß diese nicht aus sich selbst heraus, sondern im Kontext der materiellen Verhältnisse zu erörtern ist und möglicherweise wirksam werden kann.
An mehreren Beispielen demonstrierte der Referent, in welch unterschiedliche Richtungen sich ursprüngliches Aufbegehren entwickeln kann. Richard Wagner war zunächst ein Revolutionär, der mit Michail Bakunin und Gottfried Semper die alte Leipziger Oper aus der Kanalisation heraus in die Luft gesprengt hat. Semper wurde später Hofbaumeister und hat die Oper wieder aufgebaut und noch berühmter gemacht. Bakunin wurde zunächst zum Tode verurteilt und schließlich an den Zaren ausgeliefert, worauf er 20 Jahre Festungshaft verbüßte. Wagner entsagte der Revolution, ergab sich dem bayrischen König Ludwig II. und glaubte fortan, die Welt mit Kunst verändern zu können. Seine Musik ist brauchbar für die schlimmsten Greueltaten – es gibt kaum eine Kunst, die so dicht an den Begriff “Waffengattung” herangekommen ist, so Dr. Seltsam. Zum Beleg dieser Aussage bekamen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops eine authentische Szene aus Francis Ford Coppolas “Apocalypse Now” zu sehen, in der eine US- amerikanische Hubschrauberstaffel ein vietnamesisches Dorf angreift und dessen Bewohner massakriert, während aus der Revoxmaschine Wagners “Walkürenritt” dröhnt.
Der israelische Dirigent Eliahu Inbal, der als erster Wagner in Israel zur Aufführung brachte, sagte in einem Interview auf die Frage, ob Genie und Greuel vereinbar seien, man könne der Musik nicht anhören, ob der Komponist Kommunist oder Faschist ist. Es wäre absurd zu sagen, daß Wagners Musik antisemitisch sei. Ein Künstler könne das größte Schwein sein und trotzdem die größte Kunst hervorbringen. Ein großer Künstler müsse nicht unbedingt ein netter Mensch sein, und die meisten seien es auch nicht.
Die Person des Künstlers gehört folglich immer dazu, wobei es zu berücksichtigen gilt, daß jeder Künstler als Idealist anfängt, der mit seiner Kunst etwas erreichen möchte. Die allermeisten enden jedoch in Anpassung, Karriere und Verrat, so der Referent. Zugleich kann Kunst für höchst unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden, wenn man beispielsweise an den Song “Hotel California” über den Ort ohne Wiederkehr denkt, nach dem das Gefängnis in Bagram von den US-Soldaten benannt wurde, die dort wie auch anderswo unter anderem Musik als Folter einsetzten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch Forschungen in Hamburg und Frankfurt, durch Dauerbeschallung mit bestimmten Formen von Musik ausgewählte Personengruppen wie etwa Drogenkonsumenten von öffentlichen Plätzen zu vertreiben.
Wie Dr. Seltsam in einer Anmerkung zum Tagungsort und dessen Geschichte einflocht, wollten die Nerother die Entfremdung in der arbeitsteiligen Gesellschaft aufheben, was jedoch allein durch Reisen und das Kennenlernen fremder Länder und Menschen nicht möglich ist: “In Indien bin ich genau derselbe Arsch wie hier!” Zu einer Aufhebung der Entfremdung bedürfe es eines langen revolutionären Prozesses.
Als musikalisches Intermezzo, doch natürlich hart am Thema, spielte Detlev K. das Stück “Ausdiskutiert”, in dem Franz Josef Degenhardt die ungebrochene Präsenz der US-amerikanischen Besatzer in Deutschland aufs Korn nimmt.
Detlev K. – kein Freund von Ambivalenz
Foto: © 2013 by Schattenblick
Von Jerichos Mauern bis zu Mühsams Blütenblatt
Um sich dem Thema “Kunst als Waffe” mit einem Blick in überlieferte Zeugnisse aus der Vergangenheit zu nähern, kam der Referent auf die einstürzenden Mauern von Jericho zu sprechen. Man könne wohl annehmen, daß während der sieben Tage des Hörnerumzugs die Mauern unterminiert und schließlich mit schon damals bekanntem Sprengstoff zum Einsturz gebracht wurden. Der schreckliche Lärm der Schofar-Hörner diente demnach einem anderen Zweck als dem biblisch überlieferten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die Luren der Wikinger, die derart scheußliche Töne erzeugten, daß die scheuenden Pferde der Feinde ihre Reiter abwarfen und das Weite suchten. Ebenfalls verbürgt ist die schrecklich anzuhörende Janitscharenmusik der Seldschuken, die zumeist ihre furchterregende Wirkung nicht verfehlte. Ein Beispiel aus neuerer Zeit ist das Horst-Wessel-Lied, das dem Feind in seiner Blutrünstigkeit signalisierte, mit wem er es zu tun hat. Militärmusik mit Trommeln und Pfeifen diente bekanntlich im Gegenteil dazu, die eigenen Soldaten auch unter feindlichem Beschuß in Reih und Glied zu halten. Das vierte Buch der Thora berichtet, wie Moses die Aufrührer, die schon das Goldene Kalb angebetet hatten, angesichts einer neuerlichen Revolte in der Erde versinken ließ – leider seien die von ihm gesprochenen Worte nicht überliefert, weshalb man sie nicht auf das Goldene Kalb von heute in Gestalt des Frankfurter Bankenviertels anwenden könne, so der Referent. Nicht zu vergessen die Zerstörung von Sodom und Gomorrha, worauf Lots Weib, das sich umschaut, zur Salzsäule erstarrt – eine beeindruckende Wirkung, die das moderne Theater vergeblich zu wiederholen versucht, wie Dr. Seltsam süffisant anmerkte.
Gibt es einen nachweisbaren Zusammenhang von Kunst und Wirkung, der über den Badewanneneffekt, also das allmähliche Heben des allgemeinen Niveaus hinaus unmittelbar greift? Im griechischen Altertum herrschte die Vorstellung vor, daß alles Geistige und Künstlerische eine konkrete Macht sei, die Menschen bewegen und formen kann. Die neun Musen für die epische Erzählkunst (Kalliope), die Tragik (Melpomene), die Komik (Thalia), die Lyrik (Euterpe), Tanz und Chorgesang (Terpsichore), die Liebesdichtung (Erato), Hymnen aller Art (Polyhymnia), Astronomie und Astrologie (Urania) und interessanterweise auch Geschichtsschreibung (Klio) zeugen nicht nur von der Bedeutung, die damals den Künsten beigemessen wurde, sondern auch von einem differenzierten Verständnis der verschiedenen Gattungen. Auch aus christlicher Sicht klingt bisweilen wie in der Erzählung Heinrich von Kleists “Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik” die Idee einer wirkmächtigen Muse an.
Energisch zur Sache
Foto: © 2013 by Schattenblick
Wendet man sich modernen Übertragungswegen zu, so sind Thomas Manns 40 Reden, die von der BBC in das bombardierte Deutschland gesendet wurden, ein herausragendes Beispiel. Wenngleich ein Muster der Rhetorik, blieben sie doch weitgehend wirkungslos. Gleiches gilt für den reichweitenstarken Soldatensender Calais, der mit erstklassigen Künstlern Propaganda machte, die so gut wie erfolglos blieb. Dies widerlegt, daß es ausreicht, hervorragende künstlerische Arbeit zu machen, um den gewünschten politischen Effekt zu erzielen. Von rund 18 Millionen einberufenen deutschen Soldaten sind keine 90.000 und damit nur ein geringer Bruchteil desertiert. Auf sowjetischer Seite fuhr der NKWD zu demselben Zweck mit riesigen Lautsprechern an die Front, ohne größere Wirkung in Gestalt von Überläufern zu erzielen.
Passenderweise spielte an dieser Stelle Detlev K. das Lied “Der heilige Krieg” in der Version Ernst Buschs, das zum Kampf gegen Nazi-Deutschland aufruft.
“Lilli Marleen” blieb nachweislich nicht wirkungslos, da übereinstimmenden Berichten von verschiedenen Frontabschnitten zufolge auf beiden Seiten das Feuer eingestellt wurde, wenn dieses Lied erklang – jedoch nur für kurze Zeit. Eine offenkundige Wirkungslosigkeit findet man sogar bei Texten, die gezielt als Waffe konzipiert waren. So brachte Klaus Manns “Mephisto” seinen Schwager Gustav Gründgens keineswegs in Schwierigkeiten, wurde aber später in der BRD verboten. Oskar Maria Graf hatte aus Protest gegen die Bücherverbrennung der NS- Studenten am 10. Mai 1934 das Gedicht “Verbrennt mich” geschrieben, ohne daß dieser Protest zunächst für ihn negative Konsequenzen gehabt hätte. Andere seiner Werke wurden weiterhin publiziert und gefördert. “Das siebte Kreuz” von Anna Seghers wurde weithin gelesen und für gut befunden, doch
gibt es zumindest keine historischen Zeugnisse für daraus resultierende
Konsequenzen.
Die Vorstellung, man könne als einzelner Mensch Formulierungen finden, die Menschen zu etwas bewegen, was sie vorher nicht wollten, sei naiv, so der Referent. Andererseits forderte Lenin, daß Kunst das Erwachen der Massen aus dem feudalen Schlaf befördern solle, wobei es wohl eher die Alphabetisierung als solche war, die damals Folgen zeitigte. Erich Mühsam schrieb in seiner “Gebrauchsanweisung für Literaturhistoriker”: “Färbt nur ein weißes Blütenblatt sich rot, so ist mein Werk nicht tot.” Damit legte er den denkbar niedrigsten Maßstab für die Wirkung seiner Schriften an.
Kampfansage musikalisch verstärkt
Foto: © 2013 by Schattenblick
Dr. Seltsam vergaß nicht zu erzählen, welche künstlerischen Ausdrucksformen ihn selbst bewegt haben: Brechts “Die Mutter”, die Lieder aus der Pariser Kommune, Ernst Busch über den Spanischen Bürgerkrieg, Franz Josef Degenhardt und die Gedichte von Mühsam, Tucholsky, Kästner und Heine sowie von Jimi Hendrix “The Star-Spangled Banner” und nicht zu vergessen die Lübke-Platte, über die man parteiübergreifend lachte und so das bundesdeutsche Staatsoberhaupt vom Sockel hob.
Als musikalische Pointierung folgte Franz Josef Degenhardts “Der fast autobiographische Lebenslauf eines westdeutschen Linken”, der mit der Aussage endet, es sei immer noch besser, ein Warenhaus anzuzünden als sich selber. In späteren Jahren habe es Degenhardt stets abgelehnt, das zu singen, was darauf verweist, daß die Spaltung der westdeutschen Linken, die in der Folge ihren Niedergang maßgeblich beförderte, für eine gewisse Frist noch nicht existierte. Dem fügte Detlev K. das Stück “Rote Armee Fraktion” von der HipHop-Gruppe WIZO hinzu.
Am nächsten an die Wirkung einer Waffe in Händen der Linken sei das Lied “Grândola, Vila Morena” herangekommen, das als Signal bei der Nelkenrevolution am 25. April 1974 die Truppen aus den Kasernen rief. Dabei müsse man natürlich berücksichtigen, daß das damals in Portugal verbotene Lied nicht die Ursache der Erhebung war, sondern gewissermaßen als Auslöser wirkte, wie das schon bei den berühmten Kanonen der Aurora der Fall gewesen war, die seinerzeit nicht mit scharfer Munition geschossen haben. In Portugal wurden damals die Banken verstaatlicht, wobei die Betriebsräte in die Chefetagen gingen und tatsächlich den Tresorschlüssel ausgehändigt bekamen, da auf der Straße die Panzer der COPCON standen.
“Grândola” in der deutschen Version von Franz Josef Degenhardt untermalte an dieser Stelle den erhebenden Charakter dieses traditionellen Liedes gegen Großgrund- und Fabrikbesitzer im Süden Portugals. Wie Dr. Seltsam anmerkte, sei dieses Lied auf dem letzten Parteitag der Linkspartei gesungen worden, ohne daß dies eine erkennbare Wirkung gehabt habe. Wie er weiter erzählte, habe er das Glück gehabt, José Afonso 1975 in Lissabon in einem Konzert zu erleben, als dieser aus langjähriger Verbannung zurückgekehrt war. Er trat gemeinsam mit den Befreiungschören aus Mosambik, Sängern aus Guinea-Bissau, exilierten Portugiesen, die aus Kanada kamen und angolanischen Genossen auf – “6000 Kommunisten, das war gewaltig”, wie Dr. Seltsam sichtlich ergriffen berichtete.
Was die modernen Formen der Popkultur angehe, seien die Rolling Stones zu Anfang im Vergleich mit den zahmen Beatles tatsächlich die Wilderen gewesen, weil sie das Geschäft im Geist der Zeit erkannten. Mick Jagger habe ein Studium der Ökonomie mit Note eins abgeschlossen, und so propagierten die examinierten Akademiker der Stones im Gegensatz zu den angepaßten Aufsteigern aus der Arbeiterklasse das Rebellentum. Über das legendäre Konzert im Hyde Park 1969 berichtete Mick Jagger später, er habe in diesem Augenblick gespürt, daß er die Menschenmasse in der Hand hatte und sie nackt den Buckingham-Palast gestürmt hätte, wäre sie von ihm dazu aufgefordert worden – was natürlich nicht geschehen ist.
Ton Steine Scherben mit dem charismatischen Sänger Rio Reiser schufen mit dem Rauch-Haus-Song die Hymne der Hausbesetzer. Tumulte bei ihren Auftritten machten sie bekannt, worauf sie später in die Verträge mit den Veranstaltern schrieben, diese hätten dafür zu sorgen, daß nach dem Auftritt irgendwo am Ort Randale sei. Die Scherben gründeten einen eigenen Plattenvertrieb, die David Volksmund Produktion, die schließlich wegen ihrer säumigen Kunden pleite ging. Rio Reiser mußte die Schulden abbezahlen und dafür Schnulzensänger werden. Die frühen Lieder der Gruppe werden übrigens heute auf Partys der Neonazis gerne gespielt, was viel über die Austauschbarkeit eingängiger Parolen aussagt. Es seien eben Bewegungslinke gewesen, die sich immer an dem orientiert hätten, was gerade Bewegung machte. Immerhin hätten sie erkannt, daß man als Künstler, der auf Wirkung abzielt, Teil eines größeren Umfelds sein muß.
Nachdem “Wer das Geld hat, hat die Macht” von Ton Steine Scherben – mit der ihm eigenen Verve vorgetragen von Detlev K. – verklungen war, wandte sich Dr. Seltsam der etwas trocken und lehrbuchhaft anmutenden Liste “Die fünf Schwierigkeiten beim Verbreiten der Wahrheit” von Bertolt Brecht zu:
1) Mut zur Wahrheit.
2) Die Klugheit, die Wahrheit zu erkennen.
3) Die Wahrheit handhabbar machen als Waffe.
4) Jene auswählen, in deren Händen die Wahrheit wirksam wird.
5) Strategische List: Linke Propaganda undogmatisch in herrschende Diskurse einbauen – eine sehr riskante Empfehlung für die Linke, wie der Referent anmerkte.
Wie nicht nur Brecht an dieser Stelle zu entgegnen ist, kann der allseits beliebte Wahrheitsanspruch nur in die Sackgasse führen, so erhebend das Gefühl auch sein mag, auf der richtigen Seite zu stehen. Wahrheit bedeutet im ursprünglichen Wortsinn nicht mehr und nicht weniger als das, was man gutheißt und bevorzugt. In den Rang einer allgemein gültigen Richtschnur erhoben, kann sie nur zur Waffe in den Händen des Stärkeren werden, der über die Zwangsmittel verfügt, seiner Version gültiger und legitimer Denk- und Handlungsweisen zur Durchsetzung zur verhelfen.
Davon abgesehen fehlte selbst bei Erfüllung der von Brecht aufgelisteten Anforderungen noch immer die erforderliche Medienpräsenz in Gestalt eigener Sender und Presse. Erforderlich seien daher noch viel mehr kleine Volkssender, freie Radios und linke Zeitungen, schloß Dr. Seltsam seinen anregenden und unterhaltsamen Vortrag, der ein gravierendes Thema mit leichter Hand präsentiert hatte.
Mit der “Max-Hölz-Ballade”, einem vertonten Gedicht Erich Mühsams über jenen weithin vergessenen Kommunisten, der gegen den Willen der KPD- Führung bewaffnete Kampfgruppen aufstellte, die 1920/21 im Vogtland den nach ihm benannten Aufstand initiierten, setzte Detlev K. den kämpferischen Schlußpunkt des Vortrags.
Im steinernen Rund Kritik entfalten
Foto: © 2013 by Schattenblick
In der anschließenden Diskussion kam unter anderem zur Sprache, daß bekannte Kinder- und Volkslieder wie “Hoppe, Hoppe, Reiter”, “Winter ade” oder “Auf einem Baum ein Kuckuck saß” ursprünglich verschlüsselte Botschaften des Widerstands gegen bestimmte herrschende Verhältnisse enthielten. Das verstehe heute natürlich niemand mehr, weshalb man neue Geschichten der Leute auf der Gasse brauche. Kunst als Waffe sei kein fertiges Produkt, sondern vielmehr dieser Schaffensprozeß zusammen mit den Menschen, meinte ein Teilnehmer.
Ein anderer berichtete aus seiner langjährigen Arbeit im Betrieb, daß es den Linken schwerfalle, die Sprache der normalen Menschen im Akkord- und Schichtbetrieb zu sprechen. Gelinge ihnen das nicht, isolierten sie sich immer mehr. Während er in den 1970er Jahren keine Angst gekannt habe, sei diese heute ein alltägliches Erleben zahlloser Menschen, dem man Rechnung tragen müsse.
Wie Detlev K. unterstrich, sei alle linke künstlerische Betätigung bedeutungslos, solange der Künstler nicht selber an der sozialistischen Bewegung teilnehme – und zwar nicht als Künstler. Am besten wisse dort niemand, daß er einer ist.
Jürgen Eger blieb es vorbehalten, auf allgemeinen Wunsch mit dem Vortrag zweier scharfzüngiger Lieder über die Gewinnermentalität des Künstlers nach dem Anschluß der DDR sowie die verlockenden Freuden des Einzugs in den Bundestag den Workshop zu beschließen.
Jürgen Eger – “ein ehemaliger Mensch aus der ehemaligen DDR”
Foto: © 2013 by Schattenblick
Keimzelle gegenkultureller Widerständigkeit
“Kunst als Waffe” zu nutzen richtet sich gegen gesellschaftliche Gewaltverhältnisse, denen die Rekrutierung der Künste für ihre Zwecke schon deshalb ein Anliegen ist, weil sie deren subversive Wirkung fürchtet. So legitimiert der bürgerliche Kunstbetrieb Herrschaft gerade dadurch, daß er sich der ästhetischen Formen dieses Potentials bemächtigt und sie in die Harmlosigkeit der bloßen Meinungsbildung und symbolpolitischen Rituale überführt. Nicht umsonst schmücken sich Regierungen und Banken mit avantgardistischen Werken der Bildenden Kunst, nicht von ungefähr verstehen sich die Produzenten der globalen Popmusik auf das Inszenieren rebellischer Attitüden. Die kulturelle Aufladung der Eventindustrie, die die Bevölkerung von einem sinnstiftenden und motivationsfördernden Rausch in den nächsten treibt, ist zu einem bevorzugten Aktionsfeld von Politikerinnen und Politikern auch deshalb geworden, weil sie dort den Anschein erwecken können, nichtbloße Rädchen im Getriebe finanzwirtschaftlicher Sachzwänge und globalen Krisenmanagements zu sein.
Die sogenannte Kulturwirtschaft bestreitet einen stetig wachsenden Teil des gesellschaftlichen Gesamtprodukts nicht nur zur Unterhaltung der Massen und Befriedung elitärer Distinktionssucht, sondern auch zur Einbindung aller selbstbestimmten, noch nicht von den Fördertöpfen staatlicher Kulturinstitutionen und privatwirtschaftlicher Stiftungen abhängigen Kunstschaffenden. Von daher kann die kritische Auseinandersetzung mit der kulturindustriellen Legitimationsproduktion in Staat und Gesellschaft für die Künstlerinnen und Künstler sozialrevolutionärer Bewegungen nicht offensiv genug geführt werden. Der Linke Liedersommer ist eine Keimzelle gegenkultureller Widerständigkeit, die stark zu machen der ganzen Geschichte subversiver Bestrebungen wie der ganzen Zukunft unabgegoltener Sozialutopien bedarf.
Fußnoten:
[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0145.html
[2] MEW 1, S. 385
Bisherige Beiträge zum Linken Liedersommer auf Burg Waldeck im Schattenblick unter INFOPOOL ? MUSIK ? REPORT:
BERICHT/013: Eine Burg und linke Lieder – wie alles kam (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0013.html
BERICHT/013: Eine Burg und linke Lieder – Soziales nach Noten (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0014.html
INTERVIEW/019: Eine Burg und linke Lieder – Nieder und Lagen und Blicke voran, Kai Degenhardt im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0019.html
15. Juli 2013